…
»Das macht aber nix«, sagte der Schnauzer Sekunden später.
»Genau«, sagte Lisi, »das macht nix, weil es gibt eh ein Zimmer für Ihna, viel schöner noch als bei uns. Drüman«, sie hob ihren Arm, als zeigte sie nur ums Eck, »drüben halt, gleich derüben gibt’s eh a Zimmer für Ihna, im Schloss.«
»Wissen Sie, Frau Berg, wir wollten Sie nur kennenlernen«, wiederholte der Patron des Hauses, als hätte er einen Teil des vorangegangenen Gesprächs träumend verschlafen. »Das war halt unser Wunsch, Sie kennenzulernen, Frau Berg.« Und dann, als betonte er es, um den ungläubigen Teil von sich zu beeindrucken: »Frau! … Aliza! … Berg!«
Ich hatte vier Romane unter diesem Namen veröffentlicht. Ich fragte, welches meiner Bücher sie gelesen hätten. Die Reaktion der beiden war eine Melange aus Verblüffung und grundehrlicher Heiterkeit. Nein, nein, Buch hätten sie keines gelesen von mir, sie, Lisi, lese nur Krimis, früher auch Liebesromane, aber nun nur noch Krimis, und Hubert, gell Hubert?, Hubert habe es überhaupt nicht so mit dem Lesen. Nein, aber in der Zeitung, da sei die Frau Schriftstellerin drinnen .
»In welcher Zeitung?«
… Na im Heimatblatt . Da sei sie drinnen.
Im Heimatblatt . Und was sei da gestanden?
Na eben dass sie komme, die bekannte Schriftstellerin eben, sie eben, Aliza Berg, und dass sie herkomme, um einen schönen Roman zu schreiben, über die Gegend und die Leut.
Einen Roman? Einen schönen? Über die Gegend? Und die Leut?
Lisi und Hubert nickten.
Hubert griff beidhändig nach unten, seinen Bauch als Rampe nutzend. Das Kleinformat musste die ganze Zeit aufgeschlagen vor ihm gelegen sein. Sachte hob er es nach oben aufs Pult der Rezeption und drehte es in meine Richtung.
Lisi und Hubert hatten kein Wort erfunden. Ich besah die Doppelseite der Zeitung, das riesige Aufmacherfoto von mir und die fette Schlagzeile.
Ich kann nicht beschreiben, wie sauer ich war.
G!
Er hatte es nicht für nötig empfunden, meine Entscheidung abzuwarten. Hatte das lokale Tratschblatt über meine bevorstehende Ankunft informiert, meine Rechercheabsichten, meine Romanpläne! Bevor ich eingewilligt hatte!
Vor mir, lange vor mir hatte G sich angemaßt zu wissen, wie ich mich entscheiden würde. Hatte es schon zu wissen geglaubt, als ich noch nicht einmal von seiner Idee und seinem Brief ahnte, ja besaß bereits Sicherheit über mich, als ich noch nicht einmal von seiner Existenz wusste. Von Anbeginn war G im Besitz dieser unheimlichen Gewissheit gewesen: dass ich gar nicht anders konnte, als ihm … aufs Wort zu folgen.
Ich starrte noch immer in die Zeitung, starrte auf das Foto von mir, auf die Zeilen, die beschrieben, was ich tun würde. Mein Impuls war, grußlos hinauszurennen, ins Auto zu springen und zurück in die Stadt zu flüchten. Hätte sich mir in diesem Moment jemand in den Weg gestellt und prophezeit, dass ich nicht nur die folgenden Stunden hier in der Gegend verbringen würde, sondern fast ein Jahr, ich hätte ihm ein großkalibriges »Ha!« ins Gesicht gefeuert und mitgeteilt, das könne er dem beschissenen Heimatblatt erzählen.
Als ich im Stechschritt das Hotel zur Post verließ (eigens nicht rennend, eigens darauf achtend, nicht gar zu aufgebracht zu wirken) und ins Auto steigen wollte, um (im Finale eigens mit quietschenden Reifen) zurück in die Stadt zu rasen, fiel mein Blick auf das Tabak-Trafik-Schild an der gegenüberliegenden Hausfassade. Zigaretten. Zigaretten würde ich mir noch rasch kaufen. Ich kreuzte den Marktplatz. Der Stechschritt muss hier besonders entschlossen gewirkt haben, meine Absätze schossen nur so gegen das Kopfsteinpflaster.
Und dann: dieses Schaufenster, dieses Schaufenster der Tabak-Trafik. Flankiert von einfältigen Billetts für Geburten, Taufen, Hochzeiten waren: Bücher ausgebreitet. Romane! Vorwiegend: meine Romane.
»Außergewöhnlich«, sagte ich beim Eintreten, »Literatur in einer Trafik.«
Der Trafikant sah auf. »Die Leute lesen ja sonst nur so was«, antwortete er und sein Zeigefinger zuckte Richtung der illustrierten Magazine und Schundheftchen. Aber wer weiß, meinte er, vielleicht entschlössen sich die Litsteiner ja, Literatur zumindest einmal zu versuchen. »Wenigstens einmal kosten«, sagte er und lächelte zurückhaltend, über seine Augenringe hinweg. So allgemein lächelte er, nicht eigens meinetwegen, oder gar mich an. Nun, vielleicht, vielleicht doch.
Falls er mich als Autorin der Bücher in seiner Auslage erkannt hatte, ließ er es sich nicht anmerken. Ich mochte diese Ungewissheit, sie schuf zwei Varianten von Gegenwart. Ich konnte mir eine aussuchen. Und gleich drauf die andere.
Der Trafikant. Eine seiner grau melierten Haarsträhnen hing zwischen mir und seinem Blick. Beiläufig rieb er sich übers Kinn, seinen Sechstagebart.
Er werde jedenfalls nicht aufhören, Bücher in die Auslage zu stellen. Und wie ich sehen könne, er breitete über dem Kassapult die Arme aus, reibe er den Kunden gute Literatur buchstäblich unter die Nase.
Sieben Bücher lagen vor mir.
Sie streckte den Arm aus und ihre Hand strich mit einem Hauch von Abstand über die Bücher, den ich zu fühlen glaubte, als Luftpolster zwischen ihr und mir .
»Wie wählen Sie die Romane aus?«, fragte ich. Sechs der sieben Titel, die in einer Reihe dicht nebeneinander auf dem Pult lagen, hatte ich gelesen, fünf davon gelungen bis großartig empfunden, über das sechste Buch konnte ich schwer urteilen, es war eines der meinen. Erschienen war es nicht unter meinem Pseudonym Aliza Berg, auf dem Buchdeckel stand der Name meines Schriftstellerfreundes.
Der Trafikant schien meine Frage nicht gehört zu haben, gedankenverloren sah er vor sich aufs Pult.
»Wie wählen Sie sie aus?«, wiederholte ich.
»Lieblingsbücher«, sagte er. »Das da sind alles Lieblingsbücher von mir. Ein Ausschnitt meines Kanons.«
»Wir scheinen einen ähnlichen Geschmack zu haben.« Ich strich abermals über die Romane, berührte sie diesmal vorsichtig mit den Knöcheln meines Zeige- und meines Mittelfingers. »Diese sechs Bücher kenne ich. Das hier nicht, ich nehme es. Und eine Schachtel Smart.«
Er schmunzelte. Diesmal war es eindeutig, er schmunzelte mich an.
»Sie wissen es, stimmt’s?« sagte er. »Smart gibt’s nicht mehr, sind schon lange aus dem Sortiment genommen worden. Waren die besten, wurden aber zu wenig gekauft.«
Ja, ich wusste es. Doch nach meiner Lieblingsmarke zu fragen, immer wieder aufs Neue, in jeder Trafik, bei jeder Gelegenheit, war meine Art des Protests.
»Man darf das Beste nicht aufgeben«, sagte er. »Nie darf man es aufgeben, selbst wenn es nicht mehr existiert.«
Selbst wenn es nicht mehr existiert . Der Satz klang nach in mir. Oder tut er es jetzt erst, beim Schreiben?
Er bückte sich, hantierte hinter dem Verkaufspult. Nur sein Haarschopf war noch zu sehen. Als er auftauchte, hielt er mir ein schmales Tablett entgegen, darauf lag eine einzelne Zigarette.
Es gab sie noch. Bei diesem Trafikanten gab es sie noch! Meine Lieblingsmarke! Er musste sie gehortet haben. Einen ganzen Vorrat unter seinem Pult versteckt halten. Ich sah ihn an. Schelmischer Blick. Dunkle Augenringe.
Ich war schon draußen und einige Schritte gegangen, da kam mir der Gedanke, ob ich umdrehen und es ihm sagen sollte, es ihm einfach sagen sollte. Dass ich vorgehabt hatte, aus Litstein abzureisen, zu flüchten aus dieser Enge, zu flüchten vor diesem G. Dass ich seinetwegen, des Trafikanten wegen aber vorerst bleiben würde. Seinetwegen und seiner Art wegen, Romane in die Auslage einer Trafik eines Zweitausend-Einwohner-Nests zu stellen. Seinetwegen und seiner Vorliebe wegen, Zigaretten und anderes hoffnungslos aus der Mode Gekommenes anzubieten. Seiner Schwäche wegen, Unvernünftiges zu tun, seiner Neigung wegen, an Verlorenem festzuhalten.
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