Weil das freilich Unsinn war, beschloss ich, den Text möglichst unvoreingenommen zu lesen, in der Hoffnung, herauszufinden, wer sich dahinter verbergen mochte. Abgeklärt wie eine Forensikerin wollte ich vorgehen, wie eine Profilerin, um dahinterzukommen, was dieser Mensch tatsächlich von mir wollte, abgesehen von einem Roman, und ob ich ihm über den Weg trauen konnte. An Stil, Wortwahl und Satzmelodie wäre abzulesen, was von ihm zu halten war. Ich würde das Schreiben röntgen, Satz für Satz, Wort für Wort, und dahinter käme, nach und nach, er zum Vorschein. An seinen Worten würde ich ihn erkennen.
Zwei Bitten erlaube ich mir zu äußern . Welch zurückhaltende Höflichkeit! War sie aufgesetzt oder echt?
Gleich danach der unmissverständliche, fast gebieterisch erteilte Auftrag: Der Roman soll das Leben zum Thema haben. Ist dies nicht ohnehin das Größtmögliche, das sich eine Schriftstellerin vornehmen kann? Natürlich war es das Größtmögliche. Es abzulehnen, vom Leben zu schreiben, wäre absurd gewesen, noch dazu, weil sich unter dem Arbeitstitel Leben ohnehin über alles schreiben ließe, jede Autorin musste da zustimmen. Wo war also der Haken an der Sache?
Und dann, im ersten Absatz schon diese freundschaftliche Anrede: Nicht mehr wie zu Beginn sehr geschätzte, sondern mit einem Mal liebe Aliza Berg – was für eine Handreichung, was für eine zuckersüße Einladung. Hier schrieb jemand, der mit Worten und Stimmungen umzugehen verstand. Wozu aber brauchte er dann mich? Wieso schrieb er seinen Roman nicht selbst?
Und weshalb die nächste Passage, warum diese Moralpredigt: Und ist es nicht auch so, dass Literatur geradezu die Pflicht hat, aufs Ganze und gegen jede Vernunft immer nur aufs Ganze zu gehen? Die höchsten Gipfel, die hellsten Himmel? Das Leben – seine Geheimnisse, die offenkundigen und die verborgenen .
Worauf spielte er an? Wollte er sichergehen, dass ich ausreichend motiviert war, um aufs Ganze zu gehen? Welche Neugier sollte bei mir geweckt werden mit der Anspielung von wegen Geheimnisse, die offenkundigen und die verborgenen?
Darauf folgte, dramaturgisch schlau, eine Mischung aus Besänftigen, Ablenken und Honig-ums-Maul-Schmieren: Ich kenne und liebe Ihren Roman »Selatura«, daher bin ich gewiss, dass Sie, geschätzte Aliza Berg, mehr als nur ausreichend Verstand und Gefühl mitbringen für dieses Vorhaben, und darüber hinaus etwas Entscheidendes: einen frischen, unvoreingenommenen Blick .
Der neuralgische Moment in diesem Absatz war die als Kompliment kaschierte Ermahnung: Etwas Entscheidendes also hatte ich mitzubringen, einen frischen, unvoreingenommenen Blick . Als ob das nicht bei jeder ernst zu nehmenden Schriftstellerin vorausgesetzt werden dürfte. Die Botschaft musste also eine andere sein: Hatte der Briefschreiber Sorge, ich könnte die Szenerie vor Ort ebenso voreingenommen sehen wie alle anderen? Wovor warnte er mich?
Danach kam, der Absender machte es deutlich, die wichtigste Passage. Sie enthielt das einzige Wort im Brief, das er für nötig befunden hatte zu unterstreichen: Beiliegend finden Sie eine Landkarte, und damit komme ich zu meiner zweiten Bitte. Mein Wunsch ist, dass Sie das Leben exemplarisch anhand der auf dieser Karte markierten Region und aller ihrer Bewohner beschreiben .
Aller ihrer Bewohner. Er hatte Sorge, ich könnte jemanden übersehen. Jemand für ihn Besonderen. War es das, worauf er es abgesehen hatte? Ging es ihm im Grunde nur um einen besonderen Menschen? Wollte er mich als Spionin einschleusen? War es das, was er meinte, wenn er schrieb: … dass Sie dem Leben hinter die Kulissen blicken, es erforschen, gleichsam mit Mikroskop und Teleskop, es mit unbestechlichen Augen wie neu entdecken – und damit womöglich erstmals wahrhaftig .
Ich legte das Schreiben zur Seite und griff nach der beigelegten Kopie eines Landkartenausschnitts. Das mit Rotstift umrandete Gebiet schien unbewohntes Grenzland zu sein. Wenn ich die Schraffierungen richtig deutete, bestand die Gegend neben Wald aus nichts als Teichen und Wiesen. Großartig, der Typ war ein Spinner.
Wie als Provokation lag unmittelbar außerhalb der roten Markierung eine Ortschaft, innerhalb der von Hand gezogenen Grenze der Romanhandlung aber: nichts. Nichts als Pampagrün in verschiedenen Nuancen.
Ich nahm meine neue Hornbrille. Ich brauchte sie nicht, sah ohne sie sehr wohl noch ausreichend, hatte sie mir auch nur zugelegt, weil mir mein Augenarzt damit auf die Nerven gegangen war, aber meinetwegen, wenn es um Feinheiten ging, machte sie vielleicht einen Unterschied. Als ich mich erneut über die Karte beugte und diesmal genauer hinsah, konzentrierter, war da doch Leben. Mitten im Forst lag ein Haus und, vielversprechender, mein Möchtegern-Auftraggeber hatte mit seiner Linienziehung zwar den benachbarten Ort ausgenommen, etwas am Übergang von Wald und Ortschaft aber verschont. Auf der Landkarte war es mit Kreis und senkrechtem Fähnchen eingezeichnet. Ich brauchte keine Kartenlegende, um das Symbol zu deuten, bei dem Ding handelte es sich um eine Burg oder um ein Schloss.
Zurück zum Brief. Formvollendet wurde mir darin versichert, dass ich mir um Geld fortan keine Gedanken zu machen brauchte und nicht etwa mir, sondern diesem Briefschreiber einen Riesengefallen täte, es reichlich anzunehmen. Eine Ehre wäre es ihm, dürfte er sich für meine Arbeit gebührend bedanken . Vorerst habe er sich erlaubt , eine erste Anzahlung zu überweisen. Er tat alles, um sich als ergeben und mich als souverän darzustellen. Es war Taktik, sollte mich milde stimmen für das, was nun folgte: Dieser Mensch kannte mich mit Vor- und Nachnamen, hatte über mich recherchiert, wusste meine Adresse, meine Kontonummer, nicht auszudenken, was noch alles, doch selbst verheimlichte er seinen Namen – und rechtfertigte sich mit einem Argument, das er bei mir gestohlen hatte: Nie spielen Namen eine Rolle, nur das Werk zählt . Ja, das waren meine Worte, sie standen auf der Homepage einer Schriftstellerin, die nicht unter ihrem eigenen Namen schrieb, sondern unter dem Pseudonym Aliza Berg.
Ich weiß nicht, ob das zu verstehen ist, aber mein wirklicher Name würde mich von meiner Arbeit ähnlich ablenken wie Lärm, markantes Parfum oder auffällige Kleidung. Alle Aufmerksamkeit sollte ungeteilt der Literatur gelten. Deshalb hatte ich mir auch angewöhnt, wie Bühnenarbeiter in Opern- und Theaterhäusern ausschließlich Schwarz zu tragen. Hell im Licht stehen sollte nur das Werk.
Mit den Jahren gewährte selbst das Pseudonym Aliza Berg zu wenig Freiheit. Es war zur Marke geworden, machte sich wichtig. Meinen jüngsten Roman hatte ich deshalb ganz abgenabelt von mir, von Beginn an war vereinbart, dass er unter der Obhut und dem Tarnnamen eines befreundeten Schriftstellers erscheinen sollte, niemand außer uns und unserem Verleger wusste davon. Der Freund übernahm es sogar, Lesungen aus dem Roman zu halten und Interviews zu geben. Wir hatten kindischen Spaß daran, unser Geheimnis als Innovation zu feiern, als neue literarische Freiheit, nämlich der Freiheit des Buches von seiner Autorin.
Nie spielen Namen eine Rolle, nur das Werk zählt, nur das Leben. Doch das, liebe Aliza Berg, wissen Sie wohl besser als jede andere .
Hochachtungsvoll!
G .
Kein Absender also, das war unangenehm genug. Doch weshalb auch noch dieser provokante Buchstabe G? Was sollte das denn? G wie Gott? Hielt er sich für allmächtig? Am Anfang war das Wort? Und das Wort erschuf das Leben, erschuf einen Roman? Hochachtungsvoll G?
Oder hieß der Typ einfach Gustav? Nannte sich G wie Gönner? War ein mir unbekannter Großonkel, Großcousin? G.
Ich traute ihm nicht. Er versteckte sich zwischen den Zeilen. Dieser ältere, vermögende Herr (mit Kaschmirsakko und Schalkrawatte, im Ohrensessel vor dem offenen Kamin sitzend), dieser Bildungsbürger, Großindustrielle, Schlossherr, Burggraf, dieser wer auch immer, er führte etwas im Schilde. Es war nicht nur der Roman, der ihn interessierte. Er hatte eine versteckte Absicht. Das war meine Analyse. Und diese Analyse ergab: Nein, tu es nicht. Und unmittelbar nachdem meine Analyse das ergeben hatte, stand fest: Ich mach’s.
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