Sämtliche Zweifel, Argumente, Unwägbarkeiten – sie waren nebensächlich. Ich konnte einen Roman schreiben, in völliger literarischer Freiheit . Und Geld gäbe es mehr als genug.
Ich würde mich nicht von diesem Typen beeinflussen lassen. Ich war unabhängig. Ich war erfahren. Ich würde einen Roman schreiben, ein Werk. Nur das zählte.
Fahrig wie eine Getriebene, wie eine von unbekannter Macht Gehetzte, sah ich mich in der Wohnung um. Und begann zu packen. Ich würde hinfahren, einfach einmal hinfahren, mir ein Bild machen, es verpflichtete mich ja zu nichts, wo war das Risiko? Hatte ich denn groß etwas zu verlieren? Ach, was!
G, ich komme.
ERSTER TEIL
Ich hatte mich so weit im Griff, dass ich nicht Hals über Kopf noch am selben Tag losfuhr. Stattdessen recherchierte ich über die auf der Landkarte eingezeichnete Burg, ihre Besitzer und das vom Briefschreiber rot umrandete Gebiet. Weil ich für den nächsten Tag fit sein wollte, ging ich abends früh ins Bett, wälzte mich von einer Seite auf die andere, fand auch mit Atemübungen und Baldriantropfen nicht in den Schlaf, sah um ein Uhr dreiundvierzig zum x-ten Mal auf den Radiowecker, fuhr hoch, nachdem ich endlich eingeschlafen war, träumte Verrücktheiten und brach schließlich in aller Herrgottsfrüh auf, um zwei Stunden später, nach einer Autofahrt wie in Trance, aschbleich und zittrig in der Gegend anzukommen. Welker Weberknecht. Gekleidet in Schwarz. Großartig.
Schloss Litstein war seit 1717 im Besitz der Familie Hohensinn, eines böhmisch-österreichisch-deutsch-niederländischen Adelsgeschlechts, dem es als Wohnsitz diente, weshalb es nicht öffentlich zugänglich war, wie ich bei Wikipedia erfuhr. Das Anwesen lag am Rand der Zweitausend-Einwohner-Gemeinde Litstein auf einem Felsbuckel und bestand neben dem Neuen Schloss aus einer mittelalterlichen Burg sowie einem am Fuß des Felsens errichteten Meierhof und mehreren Wirtschaftsbauten.
Zum Besitz gehörten zwölftausend Hektar Wald samt einem Dutzend teils seegroßer Fischteiche. Nur die drei kleinsten lagen innerhalb der roten Markierung, der große Rest außerhalb und zudem jenseits der Grenze, wo die Familie Hohensinn ebenfalls menschenleeres Land besaß. Natur so weit das Auge reichte. Das einzige Gebäude diesseits der Grenze, das ich auf der Landkarte entdeckt hatte, erwies sich als altes Forsthaus.
Die Burg Litstein tauchte bereits auf, als ich noch etliche Kilometer entfernt war. Wie ein einsamer Finger ragte ihr Turm aus dem Meer des Waldes. Ihr Turm ragte wie der Finger eines Ertrinkenden aus dem Meer des Waldes , so hätte ich es auch schreiben können, aber die Schriftstellerin in mir befand, dass das dem Ort der Romanhandlung eine zu düstere Stimmung verpasst hätte. Da sehen Sie wieder: Selbst wenn Romane auf wahren Begebenheiten beruhen, heißt das gar nichts. Auf die Wahrheit ist kein Verlass. Warum sollte es bei Romanen anders sein als im übrigen Leben. Schließlich hat schon ein Staubkorn mehr als zwei Seiten. Was soll als Wahrheit gelten? Die, betrachtet von oben, unten, rechts oder links? Die gestrige, heutige, übermorgige? Man müsste sich schon wie ein Quantenteilchen herzkopfüber hineinstürzen können in die Menschen, die Dinge und die Ereignisse, um zu erleben, was sie ausmacht. Dann wüsste man mehr über die Welt als sie selbst.
Ich reduzierte das Tempo. In einer breiten, den Horizont einnehmenden Welle rollte eine bewaldete Hügelkette hinterrücks an die Burg heran. Darüber standen aufgefädelt Wölkchen. Sie verrieten, dass in Litstein an diesem Tag der Himmel nach unten gerutscht sein musste, so viele Etagen tief, dass die Wölkchen bäuchlings bereits von den Wipfeln der Fichten und Tannen geneckt wurden. Erde und Himmel berührten einander. Wie lange würde es dauern, bis die Wölkchen es nicht mehr aushielten, sich ganz hingeben würden, völlig aufgelöst?
Eine Weile noch rollte mein Auto hügelab dem Tal entgegen. Während zur Rechten der Wald immer näher rückte, lagen zur Linken einzelne Höfe, glitzernde Teiche, Weideland. Ich genoss es, talwärts zu gleiten. Als flöge ich dem Himmel zu. Erst ganz zuletzt fiel das Gelände stärker ab. Anstatt wie bisher leicht Gas zu geben, war es nötig, dem Wagen Geschwindigkeit zu nehmen. Ich bremste gegen die Gravitation, fuhr auf Litstein zu.
Beim Passieren der Ortstafel irritierte mich etwas. Irgendetwas Befremdliches, oder war es etwas Vertrautes, war mich angesprungen von der Seite her. Von der Wiese über den Straßengraben war es zu mir gehuscht, dann blitzte ein morgendlicher Sonnenstrahl, der sich an der Scheibe brach, und schon war ich zu weit, um zu sehen, was es gewesen war.
Zuerst einmal würde ich zum Marktplatz fahren, dort lag Litsteins einziges Hotel, ich hatte ein Zimmer reserviert. Einfach ausrasten, ankommen, einen Kaffee trinken, mich frisch machen. Das alles in einer halbwegs sinnvollen Reihenfolge, am besten mit dem Kaffee zu Beginn, ja, zuallererst brauchte ich einen Kaffee. Ich parkte den Wagen direkt vor dem Hotel zur Post, nahm es als gutes Omen, dass exakt vor dem Eingangsportal eine Parklücke frei war. Das mochte ich auf dem Land, die freien Parklücken.
»Jo do schau her! Grüß Gott!« Und die Freundlichkeit der Leute, die mochte ich auch. Kaum war ich aus dem Auto draußen und schon gegrüßt. Eine ältere Dame mit Hund.
»Guten Morgen!«, antwortete ich und sie blieb stehen, strahlte mich an wie eine gelungene Überraschung, schüttelte, als könnte sie so viel Glück kaum fassen, die blaustichig dauergewellte Frisur, zerrte ihr Hündchen zur Seite, um mir Platz zu machen, und ließ ihrer Stimmung freien Lauf, indem sie mir ein weiteres »Grüß Gott« wünschte, das ich höflich nickend entgegennahm, wie es sich gehörte für eine so herzlich empfangene Fremde, und ich wiederholte dieses Lächeln und Nicken gerne, wenn auch etwas irritiert, als sie, da war ich an ihr vorbei und hatte die Hand schon an der Hoteltür, mir nachrief: »Willkommen, herzlich willkommen!«
»Ah, Frau Berg!«, begrüßte mich, ich war kaum eingetreten, ein stattlich runder Mann, und sein Schnauzbart vibrierte, als hätte auch er an diesem Morgen nichts anderes herbeigesehnt als mich.
»Lisi kum, na kum scho, d’ Frau Berg is do!« Er flüsterte es zischend Richtung Nebenraum, aus dem auch gleich Lisi herausgeschossen kam, mit glühenden Backen. Nebeneinander standen sie hinter der Rezeption. Und betrachteten mich. Erwartungsvoll.
Ich mache nie auf Diva, es liegt mir wirklich nicht, aber diese Szene schien mir den Verstand zu vernebeln und so fragte ich, freundlich aber doch nachdrücklicher, als es nötig gewesen wäre, ob ich auf der Stelle, gleich mit dem Beziehen des Zimmers, zwei große Tassen Mocca nach oben serviert bekommen könnte.
»Oje«, sagten die Lippen unter dem Schnauzbart, ich sah es wie in Zeitlupe, vielleicht, weil mein Kreislauf noch nicht so recht wollte an diesem Morgen. »Z…i…m…m…m…m…e…e…r«, sagten die Lippen unter dem Schnauzbart, und nun beschleunigten sie: »ist leider keines frei.« Schließlich sei Frühsommer, Hochsaison. Alles voll.
»Owa an Kaffee kennan S’ scho haum.« Lisi nickte aufmunternd. Ergänzte, weil ich nicht reagierte, »einen Kaffee kann ich Ihna schon machen.« Wie rührend, sie sprach eigens Hochdeutsch mit mir.
»Aber ich habe doch reserviert«, sagte ich. (Der Gastauftritt der Diva war vorbei, ich war wieder ganz ich.) »Wie kann es sein, dass kein Zimmer frei ist, ich habe reserviert, gestern, telefonisch.«
Der Schnauzer schien ebenso ratlos wie ich.
»Sie müssen bitte verzeihen«, sagte Lisi, »weil wissen S’, wir haben uns so gefreut, Ihna kennenzulernen, da wollten wir, wissen S’, Ihna nicht absagen. Aber Zimmer haben wir keins mehr frei.«
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