Als Hinweis auf die angesprochenen stilistischen Unterschiede werden Studien zur Textsortenspezifik6 – ein weiterer Forschungszweig in der Forschung zu Nomen-Verb-Verbindungen – herangezogen, die zeigen, dass die Gefüge häufig in Textsorten mit offiziellem Sprachduktus und amtlichen Charakter vorkommen, wie z.B. in politischer Berichterstattung (Panzer 1986), technischer Fachsprache (Vigašová 1968), wissenschaftlichen Texten (Richter 1988), Texten aus Wirtschaft und Handel (Schaarschuh 1990, Marušić 2012) und in Gesetzestexten (Seifert 2004, Crestani 2013, Storrer 2013). Die Hypothese, dass Funktionsverbgefüge häufiger in Gesetzestexten vorkommen, konnte allerdings nicht bestätigt werden, denn
[d]er empirische Befund hat […] ergeben, daß die Gebrauchsfrequenz der FVG in Gesetzestexten a) nicht höher als in anderen fachsprachlich geprägten Textsorten und b) zumindest in der Gegenwart kein konstantes Merkmal ist. Offensichtlich handelt es sich bei der Auffassung, FVG seien besonders typisch für die Gesetzessprache, um ein Vorurteil. (Seifert 2004: 201f.)
Außerdem weist Pottelberge (2001) darauf hin, dass es unter Funktionsverbgefügen im weiteren Sinn sowohl Konstruktionen gibt, die einen elaborierten Sprachgebrauch kennzeichnen, wie z.B. eine Kalkulation vornehmen , als auch Gefüge, die stilistischer näher am Standard anzusiedeln sind (vgl. Pottelberge 2001: 249). Deswegen kommen Funktionsverbgefüge nicht nur in amtlichen und offiziellen Textsorten vor, sondern finden auch in einer Vielzahl anderer kommunikativer Gattungen7 Anwendung, wie z.B. Zeitungstexten (Schmidt 1968, Popadić 1971), literarischer Prosa (Storrer 2013), Wikipedia-Artikeln (Storrer 2013), in gesprochenen Texten (1) (vgl. Deppermann 2006: 45) oder in Rap-Texten (2)(3), vgl. folgende Beispiele:
1 was (.) äh äh herr kretschmann (.) ich würde gerne ihnen nachher auch noch ne ◄frage stellen ►(.) hh ähm(ID: FOLK_E_00064_SE_01_T_05; Hervorhebung S.K.)
2 „Vermiss die Fam, die Gang, die StraßenRichter legen uns in Ketten, aus StacheldrahtKinder schlafen in Zellen wegen TatverdachtImmer Fragen stellen – LKA, zu abgefuckt, der verkackte Staat“(187 Straßenbande: Lieblingszahl, Album: Der Sampler 3; Hervorhebung S.K.)
3 „Du denkst du und deine Spinner-Clique kickt Raps und kommt gegen mich an? […]Ich rap weltklasse auch wenn ich dafür kein Geld fasseIch kick Rhymes die Chicks aufblühen und verwelken lassen“(Morlockk Dilemma, Leipzig steht in Flammen, Album: Egoshooter; Hervorhebung S.K.)
Weil Beispiel (1) aus den Stuttgart 21 Schlichtungsgesprächen (Folk-Korpus, IDS) – einem politischen und öffentlichen Diskurs zum Neubauprojekt des Stuttgarter Bahnhofs – stammt, könnte argumentiert werden, dass derartige Gespräche zwar mündlich vermittelt sind, sich aber durch den offiziellen und öffentlichen Rahmen der Veranstaltung durch als konzeptionell schriftlich klassifizieren lassen (vgl. Koch/Oesterreicher 1985: 17). Den nachstehenden Beispielen (2) und (3) aus den Musiktexten der Rapper der 187 Straßenbande und Morlock Dilemma kann jedoch durch Ausdrücke und Wendungen wie Fam (Familie), Gang , Chicks , abgefuckt und verkackter Staat kein amtlicher Sprachduktus attestiert werden. Wären Funktionsverbgefüge, wie Frage stellen , also stilistisch markiert, dann würden sie vermutlich nicht in Rap-Texten vorkommen, die sich durch einen provokativen und vulgären Sprachstil auszeichnen (vgl. Androutsopoulos 2003, Kabatnik 2014). Funktionsverbgefüge werden aber nicht nur im Rap verwendet, es können sich darüber hinaus auch neue und textsortenspezifische Gefüge, wie z.B. Raps oder Rhymes kicken für rappen oder rhymen (engl. ‚sprechsingen‘) entwickeln. Die Existenz von Funktionsverbgefügen lässt sich demnach nicht oder zumindest nicht allein mit amtlichem oder elaboriertem Stil von Funktionsverbgefügen (im weiteren Sinn) im Vergleich mit Basisverben begründen (vgl. Pottelberge 2001: 249f.).
Zudem sind Funktionsverbgefüge kein allein deutsches Phänomen und kommen in einer Vielzahl verschiedener Sprachen vor, z.B. im Englischen (z.B. Stevenson et al. 2004), Französischen (z.B. Cortès 1999), Japanischen (z.B. Ahn 1990), Niederländischen (z.B. Klimaszewska 1983) sowie in vielen slawischen Sprachen, wie dem Russischen (z.B. Abramov 1989) und Polnischen (z.B. Żmigrodzki 2000; Taborek 2018).8 Das Funktionsverbgefüge Frage stellen existiert beispielsweise in den folgenden Sprachen (Tabelle 1):
Sprache |
Funktionsverbgefüge |
Basisverb |
Englisch |
to ask [sb.] a question |
to ask |
Niederländisch |
de [o. een] vraag stellen |
Vragen |
Französisch |
poser une question à qn |
questionner qn sur qc |
Portugiesisch |
fazer uma pergunta (a alguém) |
Perguntar |
Spanisch |
hacer [o plantear]una pregunta a alguien |
preguntar por |
Italienisch |
porre una domanda |
domandare [oder chiedere] (qc) a qu |
Latein |
proponere quaestionem |
Quaerere |
Polnisch |
zadawać [perf. zadać] komuś pytanie |
pytać [perf. s oder za pytać] |
Russisch |
зада́ть кому́-ли́бо вопро́с |
спроси́ть св. |
Slowenisch |
postaviti komu vprašanje |
spraševati [perf. vprašati] |
Bulgarisch |
задавам въпрос |
питам [o. попитвам] |
Türkisch |
soru sormak |
sormak -e -i |
Arabisch |
طرح سؤالاً |
سأل / يسأل |
Chinesisch |
对某人提个问题 |
向某人打听某事 |
Griechisch |
κάνω μια ερώτηση σε κάποιον |
Ρωτώ |
Tabelle 1:
Frage stellen und fragen in 15 Sprachen (Pons-Online 2019)
Den Wörterbucheinträgen in Tabelle 1 ist zu entnehmen, dass das Funktionsverbgefüge Frage stellen in allen Sprachen jeweils ein eigenständiges Lemma bildet und es ist – zumindest für die Sprachen mit lateinischem Alphabet – abzulesen, dass die meisten Gefüge in einem Ableitungsverhältnis mit den Basisverben stehen, vgl. z.B. das Polnische zadawać/zadać pytanie vs. pytać oder das Türkische soru sormak vs. sormak -e -i. Eine Ausnahme bildet das Englische mit to ask a question vs. to ask. Zudem weisen diese 15 Sprachen durch ihre unterschiedliche Entstehung und Entwicklung auch starke typologische Varianz auf: das Türkische als agglutinierende, das Chinesische als isolierende Sprache und die flektierenden Sprachen, wie das Deutsche und das Polnische (vgl. Haarmann 1976, Moravcsik 2013). Trotz der sprachsystematischen Unterschiede haben die aufgeführten Sprachen gemeinsam, dass das Funktionsverbgefüge Frage stellen in ihrem Wortschatz vorkommt, sogar im Lateinischen.
Im Polnischen, der Vergleichssprache dieser Arbeit, existieren Funktionsverbgefüge im weiteren Sinn, wie z.B. Frage stellen – zadać/zadawać pytanie , aber auch Funktionsverbgefüge im engeren Sinn, wie in Gang bringen – auf Polnisch puścić coś w ruch ‚etwas in Gang bringen‘, was überraschend ist, weil es für in Gang bringen ja das Verb uruchomić ‚in Gang bringen‘ gibt, d.h. trotz des Ausdrucks von Kausativität durch das Verb uruchomić ‚in Gang bringen‘ existiert im Polnischen ein kausatives Funktionsverbgefüge, das mit dem Basisverb in Ableitungsrelation steht und ebenfalls Kausativität ausdrückt (vgl. Korytkowska 2004; Skibicki 2016: 288ff.). Würden die Funktionen von Funktionsverbgefügen also allein im Ausdruck von Aspekt und Aktionsart liegen, dann dürfte es im Polnischen dem Ökonomieprinzip der Sprache nach (Sivula 1989, Barz 1997) keine Funktionsverbgefüge geben. Und würden sich Funktionsverbgefüge, wie Frage stellen , nicht von Basisverben unterscheiden, würde dies bedeuten, dass sich typologisch unterschiedliche Sprachen semantische Dubletten leisten würden (vgl. s. Kap. 1.2.3). Warum existieren derartige Mehrwortlexeme in so vielen typologisch unterschiedlichen Sprachen, wenn es entsprechende Basisverben gibt?
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