Nun stand der Höhenmesser schon unter 0. Die Holländer hatten dem Meer Land abgerungen, das unter dem Meerespiegel liegt, und das war mein Glück. Plötzlich rauschte, hart an meiner linken Tragfläche, ein schwarzer Schatten vorbei. Bei näherem Hinsehen entpuppte er sich als eine Kuh. Ich war durch die Untergrenze zwischen zehn und 15 Metern. Links von mir befand sich eine Hallig mit Häusern, von denen nur die untersten zu sehen waren. Alles Weitere war Flachland. Noch lief mein Motor. Weiße Punkte tauchten auf dem völlig ebenen Gelände auf. Erleichterung machte sich bei mir breit, denn ich vermutete, es seien Steine und glaubte, der Boden sei fest. Das war ein großer Irrtum. Mein Flugzeug sollte unbeschädigt bleiben, deshalb fuhr ich das Fahrwerk aus und setzte sicherheitshalber unweit der Häuser auf.
Es wurde eine Landung wie auf rohen Eiern, und ich hoffte schon, gerettet zu sein, als plötzlich der Boden nachgab, die Räder einsanken und der Flieger einen Überschlag machte, bei dem kurz hinter der Kabine laut krachend der Rumpf abbrach.
Nach diesem ohrenbetäubenden Krach herrschte plötzlich völlige Stille. Ich hing kopfüber in den Schultergurten. Mein erster Gedanke war: »Gebe Gott, dass es nicht brennt!« Glücklicherweise brach kein Feuer aus. Da kein Sprit mehr im Tank war, konnte nichts brennen. Dieser Umstand rettete mir das Leben.
Nach unendlich langen äußerst bangen Minuten in dieser unerfreulichen Lage klopfte es am Kabinenfenster. »Hallo, hallo, ist da jemand?«
Es waren zwei Bauern von der Hallig.
»Hilfe! Hilfe!« Es gelang mir, mich bemerkbar zu machen. Die beiden Bauern erschraken bei meinem Anblick. »Ze zijn gewond?« (Sind Sie verwundet?), fragten sie.
Ich antwortete als Norddeutscher auf Plattdeutsch: »Nee, bien ik nich, aber hol mi mol rut hir«(Nee, bin ich nicht, aber hol mich raus hier).
Aber das war leichter gesagt als getan. Die Me 109 wog leer etwa 2,2 Tonnen, und um diese zu bewegen, brauchte man mehr als zwei Leute. Nach einer Stunde waren genügend Männer beisammen, und man zerrte mich an die frische Luft. Es stellte sich heraus, dass die vermeintlichen Steine Muscheln waren. Muscheln des Wattenmeeres. Und das Wattenmeer ist nun einmal weich.
Nachdem mich die hilfsbereiten holländischen Bauern auf der Hallig gerettet hatten, musste ich wegen des Tidenhubs, also der hereinkommenden Flut, die nächsten Stunden dort verbringen. Man war sehr freundlich zu mir, half mir, meine Kleidung zu säubern, lieh mir sogar saubere Hosen und half mir, mit meiner Einheit Verbindung aufzunehmen.
Im Wattenmeer lag ein notgelandeter amerikanischer Bomber vom Typ Boeing B-17. Nachdenklich betrachtete ich die Viermotorige und stellte Vergleiche an zwischen der Abwehrbewaffnung jenes mit Recht »Fliegende Festung« genannten US-Bombers und unseren Ju-88 oder He-111. Es machte mich ein wenig nervös. Wie sollten wir auf die Dauer gegen eine solche technische Überlegenheit ankommen? Und das war erst der Anfang …
Noch am gleichen Abend lernte ich eine sehr nette semmelblonde junge Holländerin kennen. Wir freundeten uns an und suchten nach einer abgelegenen Gegend, um ein paar Stunden gemeinsam zu verbringen. Das Mädchen war immer sorgsam darauf bedacht, meine Dienstgradabzeichen abzudecken. Sie bewunderte mich als den vom Himmel gefallenen Jagdflieger und war beeindruckt von dem, was geschehen war, wollte aber natürlich keinesfalls mit einem Deutschen gesehen werden.
Am nächsten Tag kamen Kameraden von der Jagdgruppe aus Schiphol und sammelten mich ein. Wir flogen noch bis Gronigen weiter, wo ein Kamerad mit schweren Verletzungen im Lazarett lag. Er war beim Durchstoßen nicht so glimpflich davongekommen wie ich.
Beisetzung unserer Kameraden Stollte und Micheels, die den Schlechtwettereinsatz am 18. Oktober 1943 nicht überlebt hatten, in Amsterdam
Die Bilanz dieses Einsatzes: Zwei Totalverluste: Der Staffelkapitän der 6. JG3, Hauptmann Paul Stollte, und Feldwebel Uwe Micheels wurden am 2. November 1943 in Amsterdam begraben. Dazu kamen mehrere Verwundete. Die mutigsten von uns waren abgesprungen – mutig deswegen, weil das Fallschirmspringen nie Teil unserer Ausbildung war. Nur in der Theorie hatten wir es gelernt. Denn wir sollten uns davor fürchten und in unseren Maschinen bleiben bis zum letztmöglichen Moment. Den Fallschirm durften wir nur dann benutzen, wenn das Flugzeug wirklich nicht mehr flugfähig war.
Keine einzige Maschine kehrte zu unserem Fliegerhorst zurück, nur eine landete durch reinen Zufall glatt auf einem anderen Flugplatz.
Was an diesem Tag geschah, war eine Katastrophe ohne irgendeine Feindberührung. Der Gegner hatte einen Sieg errungen, ohne auch nur einen einzigen Schuss abzufeuern. Der Grund für dieses Debakels war die Fehlentscheidung, uns bei viel zu schlechtem Wetter in die Luft zu schicken, nur um einer Falschmeldung nachzugehen.
Permanente Alarmbereitschaft
September 1943, der Herbst hatte begonnen, und raue, beißende Winde fegten über die Niederlande. Das unfreundliche Wetter jener Tage erschwerte die Einsätze enorm. Man munkelte von einer drohenden Gefahr im Westen unter der Tarnbezeichnung »Doktor Gustav«. Aufklärer- und Agentenmeldungen zufolge war der Gegner dabei, Truppen und Schiffe im Süden und Südosten Englands zusammenzuziehen. Wir erhielten den Auftrag, am Kanal ein regelmäßiges Schiffsaufklärungssystem einzuführen. Kurz nach dem Morgengrauen wurde rottenweise gestartet, um dicht über dem Wasser bis vor die englische Küste zu fliegen. Der Tiefflug war nötig, um nicht vom englischen Radar erfasst zu werden. Vor Einbruch der Nacht wurde das Verfahren wiederholt. Von der anderen Seite des Kanals aus machte man übrigens dieselben Erkundungsflüge.
Ich war wieder einmal an der Reihe, als Rottenführer mit der Me 109 von Schiphol aus zu starten, wo wir damals mit der stark dezimierten zweiten Gruppe des JG 3 Udet lagen. Tief hängende Wolken und stürmische See mit Schaumkronen auf den Wellen. Es war ausgesprochen ungemütlich, so eben über die Wellen zu fliegen und damit weiter weg vom Strand Hollands. Da plötzlich tauchten zwei Flugzeuge von der anderen Seite in gleicher Höhe auf, die gerade den Weg zurück nach England antreten wollten, wie mir schien. Ich schnitt den beiden den Weg ab und setzte mich hinter die Nummer zwei.
Als der vordere Flieger bemerkte, dass sein Kamerad in Bedrängnis war, brach dieser sehr geschickt aus, was mich bewog, von Nummer zwei abzulassen, um lieber der überlegen fliegenden Nummer eins entgegenzudrehen. Der war aber schon mit seiner Kurve fertig und es kam zur unerfreulichen Begegnung Nase auf Nase. Ich empfand keinerlei Hass auf den Piloten, der jetzt genau auf mich zuflog. Er zeigte verdammt viel Mut und zwang mich, das Gleiche zu tun.
Beide drückten wir im gleichen Moment auf die Knöpfe. Meine Kanone schwieg: Ladehemmung. Nur die Maschinengewehre feuerten. Das feindliche Flugzeug musste getroffen worden sein, aber eben nicht mit der Wirkung einer Kanonengarbe. Auch meine Maschine hatte Treffer abbekommen. Den Kampf weiterzuführen, war sinnlos. Außerdem war ich mit mir selbst beschäftigt, weil es in meiner Maschine kräftig gekracht hatte.
»Zum Teufel!« Der Kühler war getroffen. Das war gefährlich, weil der Motor sofort heißlief. Meine Hände wurden schweißig. Ich war allein zwischen dem tiefen Meer und ebenso tiefen Regenwolken. Regenschauer berieselten mit dünnen Wasserfäden die Scheiben der Pilotenkanzel. Verzweifelt zerrte ich an der Kühlerabsperrung, aber sie war mit zu dickem Draht gegen ungewollte Betätigung gesichert worden. Meine Kraft reichte einfach nicht aus, um ihn durchzureißen.
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