Jeden Tag beerdigt er ein Stück seiner Vergangenheit. Hinter einem Sarg herzugehen ist nur ein äußerlicher Ausdruck dafür.
Die Pflanze ist gewachsen. Sie hat jetzt einen winzigen Stamm und oben zwei richtige Blätter. Runde, gezackte Blätter, die so grün sind, daß sie fast schon gelb wirken. Birkenblätter. Auf seiner Fensterbank wächst eine Birke.
Das Frühjahr ist stürmisch, und es kommt zu Überschwemmungen und einem Schiffbruch. Von Edda kommt nichts, kein Brief, keinerlei Lebenszeichen.
Ende Mai weiß er, daß er sie verloren hat. Diese Einsicht überfällt ihn eines Nachts. Er erwacht mit pochendem Glied, nachdem er von ihr geträumt hat. In weniger als einer Sekunde ist der Traum wie weggeblasen. Sie ist weg. Nur er ist noch da. Ein törichter alter Mann in hellblauem Schlafanzug in einem viel zu breiten Bett, für einen alten Mann ein hoffnungsloses, lächerlich optimistisches Bett.
Das Bäumchen im Stein war der Abschied, der Ersatz für sie. Jetzt erst versteht er es.
Der Kupfertopf spiegelt das Licht der Straßenlaterne. Er taumelt über den Fußboden und stolpert über seine Pyjamahose. Er reißt den kleinen Baum mitsamt der Wurzel aus und zerbricht ihn mit zitternden Fingern.
Am nächsten Morgen kehrt er die Erde und die Pflanzenreste vom Fußboden auf. Der Topf kommt wieder an seinen Platz auf dem Kaminsims. Er nimmt dies zum Anlaß, das Zimmermädchen zu bitten, alle Kupfersachen zu putzen.
Einige Tage lang ist er erleichtert. Wenn er darüber nachdenkt, dann hat sie es ihm vielleicht erspart, sich hier in der Stadt lächerlich zu machen, wieder das Opfer von Spott, Hohn und Verleumdung zu werden.
Die Terrasse des Hotels muß neu ausgestattet werden, und er kauft elegante Metallmöbel und ersetzt die üblichen Reklamesonnenschirme durch rotweiß gestreifte. Niemand soll ihm nachsagen können, daß ihm Frauengeschichten zusetzen. Es weiß zwar niemand etwas, aber trotzdem. Zum ersten Mal in seinem Leben will er hocherhobenen Hauptes umhergehen können, und vielleicht hat sie ihm ja einen Gefallen getan.
Der Zorn kommt überraschend. Er lauert ihm in Form einer unbezwingbaren Lust zu weinen auf, ohne daß er eigentlich traurig gewesen wäre.
Erwischt sich die Tränen mit einem Geschirrhandtuch ab, während es in seiner Brust pocht und lärmt, seine Hände und Füße zucken und er die Faust auf den Tisch knallt und gegen Stuhlbeine tritt. Die Angestellten schleichen an den Wänden entlang. Inmitten eines Wutausbruchs feuert er den Koch, einen kleinlauten Mann, der schon seit einem Menschenalter erst für Caroline und dann für ihn gearbeitet hat. Diese Kündigung nimmt er einige Stunden später sehr reumütig zurück.
Unten am Strand wirft er einen Stein nach dem anderen ins Wasser, auch dann noch, als es wegen der Ebbe schon längst sinnlos ist. Als letztes wirft er den Lavastein aus seiner Hosentasche. Er wirft ihn so weit wie möglich. Er trifft seitlich auf einen flachen Felsen auf und kehrt in einem kleinen, höhnischen Bogen zu ihm zurück.
Zwischen Tangbüscheln und Muscheln bleibt er auf dem feuchten Meeresboden liegen, ein Fleck der Trauer in einem Ozean des Zorns.
An diesem Abend trabt er im ganzen Gebäude herum und zählt seinen Besitz. Stühle, Tische, die duftenden Wäscheschränke mit ihren Bergen von Tischtüchern und Bettlaken, die mit Geschirr und Gläsern beladenen Regale, die Schubladen mit schwerem Besteck aus Neusilber, die Kupfertöpfe in der Küche, die riesigen Siebe, Schüsseln und Schneebesen. Den Keller mit den Weinflaschen, die auf den Regalen hübsch geschichtet liegen. Der Kühlschrank mit seinen Butter- und Sahnemengen, mit seinem Fischfond und seinen sorgfältig eingedickten Saucen.
Olivier Créach ist ein reicher Mann. Wuchert er mit seinem Pfund, dann wird er noch reicher, und Edda läßt sich ein Leben in Polstermöbeln entgehen – ohne morgendliches Putzen und mit der Möglichkeit, eine flache, luxuriöse Limousine statt eines rostigen Fahrrads zu benutzen.
Die Hoteltreppe knarrt unter seinem Schritt, und der Zorn wächst, verzweigt sich in seinem Körper und verdichtet sich in seinen Hoden. Als er schließlich in seinem Bett liegt, hat er eine anhaltende, quälende Erektion.
Nichts hilft. Er schmiert eine kühlende Salbe auf sein Glied, schüttelt es und schlägt darauf ein, ohne dem Erguß dadurch näher zu kommen.
Es ist nach eins, als er sich in sein Auto setzt. Er kennt den Weg, er hat seinen Besuch telefonisch angekündigt. Die Stimme am anderen Ende war schlaftrunken. Es ist lange her seit dem letzten Mal, aber jetzt ist es nötig.
Der Preis sei gestiegen, sagt sie, als sie ihn eingelassen hat und sie die schmale Treppe hochgehen. An ihrem mageren, bleichen Körper hängt ein Kimono. Wegen ihres Körperbaus hatte er sie damals vor vielen Jahren ausgesucht. Dünn und sehnig mit kleinen Brüsten, ein alternder Mädchenkörper, keine mütterliche Fülle.
Sie sind beide seitdem nicht jünger geworden, aber sie hat sich zumindest die Mühe gemacht, sich die Lippen zu schminken. Die Augen unter den pechschwarzen Wimpern betrachten ihn neugierig.
»Das war wirklich nicht gestern, Olivier.«
Früher saßen sie immer ein paar Minuten da und tauschten Gemeinplätze aus, ehe sie sich den Schlüpfer auszog und sich auf dem Bett auf den Rücken legte. Jetzt nicht. Wenn er was sagt, besteht die Gefahr, daß die Tränen zurückkehren.
Dieses Mal soll sie es ihm mit der Hand besorgen. Diesen Entschluß trifft er spontan. Nie mehr in eine Frau hinein.
»Wie du willst.« Sie zuckt mit den Schultern.
Das Geld liegt auf dem Tisch. Er zieht den Reißverschluß herunter und läßt sie machen, aber er spürt nichts. Nicht einmal, als er sieht, daß sich sein Unterleib zusammenzieht und es in das Klopapier spritzt, das sie bereithält. Was da passiert, widerfährt einem anderen, der kaum zugegen ist.
Das lauwarme Wasser in ihrem Bidet befördert ihn in die Gegenwart zurück. Eine Idee nimmt in seinem Kopf Gestalt an.
Es dauert eine Weile, bis sie versteht, daß es nicht um Pornographie geht.
»Meine besten Kleider?« Sie lächelt. Eine Abwechslung, nicht die Alltagsroutine, obwohl sie nicht versteht, was er damit bezweckt. Gut bezahlt ist es auch.
Zwei Tage später ist er zurück. Sein Glied hat ihn seit dem letzten Mal in Frieden gelassen. Es ist auch nicht der Grund seines Kommens.
Ihr strenges schwarzes Kleid, das kompliziert gefältelt ist, läßt ihn an eine Beerdigung denken. Ein passender Gedanke. Er will seine Beziehung zu Ebba zu Grabe tragen, ein für alle Mal und wirkungsvoll.
Sie trägt rote Schuhe mit Pfennigabsätzen. An den Ohrläppchen baumelt ein Paar große Goldringe mit glitzernden Steinen, aber er protestiert nicht. Es ist, wie es ist. Es kann gar nicht anders sein.
Den Rosenstrauß hat er in einem Blumenladen auf dem Weg gekauft. Ein riesiges Bukett aus gelben, rosafarbenen und dunkelroten Rosen mit Grün dazwischen und einer glänzenden Schleife. Sie sucht eine Weile nach einer Vase, die groß genug ist. Schließlich muß sie bei der Nachbarin anklopfen.
Stocksteif sitzt sie auf dem Stuhl, auf dem während des Kundenverkehrs ihr Schlüpfer und ihre Strumpfhose landen. Der Fotoapparat steht auf dem Bett, und er hat sich hinter ihr aufgebaut. Besitzergreifend legt er ihr eine Hand auf die schwarze Schulter, die sie gerne mit einem Tuch aus Goldlamé bedeckt hätte, aber das war ihm zu weit gegangen.
»Lächeln«, kann er gerade noch sagen, da blendet der Blitz ihn.
Noch eins, zur Sicherheit. Hierher wird er nie mehr zurückkehren.
Die Fotos läßt er in Rennes entwickeln, während er in einem Café wartet und eine Fußballzeitung von vorn bis hinten durchliest. Jedes Wort, jeden Buchstaben.
Der Mann im Fotogeschäft bedauert. Nur zwei Bilder auf dem Film, falls ihm ein Fehler unterlaufen sei, brauche er nichts zu bezahlen.
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