Vaters Anwesenheit erweist sich als der beruhigende Faktor, der nötig ist, um zu einer Vereinbarung zu kommen.
Joel Gabriel bleibt, wo er ist. Ich kann mich nicht um ihn kümmern, jedenfalls nicht gerade jetzt, und Bill als alleinerziehender Vater in der Lavawüste ist ebenfalls ausgeschlossen.
Wir rufen Marge an, und Bill besteht darauf, mit Dave zu sprechen. Dieser hat sich an das zusätzliche Kind gewöhnt und hat keine Einwände.
Hier kann Bill nicht bleiben. Nicht noch eine Nacht unter demselben Dach wie ich. Ich fahre ihn zurück zum Flughafen. Irgendwie bin ich erleichtert.
Das ist meine letzte Begegnung mit Bill. Die Scheidung, im Prinzip undenkbar für einen guten Katholiken, aber unvermeidlich, wenn sich die Ehefrau als Monster erweist, regeln die Anwälte.
Bill erhält das Sorgerecht für Joel. Ich besitze nicht die Kraft zu protestieren, und die Regelung, die wir aushandeln, wirkt akzeptabel, jedenfalls bis auf weiteres. Ein Wochenende im Monat, zwei Wochen im Sommer und jedes zweite Jahr zu Weihnachten darf ich meinen Sohn an seinem, wie sorgfältig festgelegt wird, vorübergehenden Wohnort treffen. Dafür muß ich einen Kurs für katholische Eltern absolvieren. Bills Mutter hat sich das als angemessene Strafe ausgedacht.
Joel bleibt bei Marge, die wenig später das nächste Kind erwartet, bald darauf das dritte bekommt und, ehe man sichs versieht, das vierte, das im Doppel kommt.
Joel ist zusammen mit David junior, seinem Beinahezwilling, der Älteste einer Geschwisterschar.
In den Ferien wird er von seinem Vater abgeholt und nach Florida gebracht, wo Bills Eltern seit der Pensionierung leben. Sie besuchen das Disneyland und frühstücken dort mit Mickey und seinen Freunden. So meint Bill die wenige Zeit mit seinem einzigen Kind verbringen zu müssen.
Zu den vereinbarten Zeiten tauche ich dann mit ungewöhnlichen Teddybären und seltsamen Masken auf, mit neuen Ausdrücken und komplizierten Kinderreimen, und ich bin wahrscheinlich seine Mutter, aber was spielt das schon für eine Rolle. Joel ist glücklich, wo er ist, was kann ich mehr verlangen?
Joel ist ein nettes Kind. Ein freundliches Kind, das sich um andere kümmert. Als Vierjähriger hebt er ganz beiläufig und selbstverständlich ein Einjähriges, das gestolpert ist, vom Boden auf und umarmt es, um es zu trösten. Kinder und Erwachsene werden in Joels Gegenwart und unter seinen Händen, die im Verhältnis zu seinem Körper unerwartet groß und breit sind, ruhiger, und nicht nur seine Hände sind groß. Mein Sohn hat auch ein großes Herz. Es schlägt für einen Teddy, der einen Arm verloren hat, für tote Vögel und für Insekten in Not. Seiner Mutter streicht er über den Kopf, wenn sie ihre Stirn in zu besorgte Falten legt.
Ich würde jede Faser von ihm lieben, auch wenn er nicht mein Sohn wäre. Das bedeutet jedoch nicht, daß ich mir ein Leben mit ihm rund um die Uhr vorstellen kann. Jedenfalls nicht in den Jahren, die es mich kostet, von meinen zeitlich begrenzten Dozentenstellen auf eine feste Stelle an meinem alten Institut zu wechseln.
Das Verhältnis zwischen Sprachen und den einsickernden Fremdwörtern und von Sprachen und dem überall gegenwärtigen Einfluß meiner imperialistischen Muttersprache belegt mich den Großteil meiner wachen Stunden mit Beschlag. Aus einem ziemlich marginalen Spezialgebiet ist ein Modethema geworden. Ich bin gefragt und reise durch die Gegend, halte gut besuchte Vorträge und nehme an Seminaren und Podiumsdiskussionen teil.
Meine Affären, von kurzer Dauer und geringer Bedeutung, wickele ich bei diesen Gelegenheiten ab, und zwar so weit von meinem Zuhause entfernt wie möglich.
Vater hingegen hat wieder Boden unter seinen Füßen. Er geht neuerdings aus und sucht ab und zu eine gleichaltrige Witwe, Katholikin oder auch nicht, namens Mary-Ann auf. Dieser Tatsache ist es zu verdanken, daß ich schließlich das Nest verlasse und in eines der alten Häuser in der Nähe des Campus ziehe, in dem es zufällig eine freie Wohnung gibt. Groß genug, daß darin ein Kind ein eigenes Zimmer haben kann.
Die Tür zu einer leuchtenden Zukunft ist weit geöffnet, da passiert es.
Tagsüber liegt der Stein in seiner Hosentasche, immer in der rechten. Er findet ihn leicht. Nachts hat er seinen Platz unter dem Kopfkissen. Er ist seinen Fingerspitzen ein Trost und gibt seiner Handfläche Geborgenheit.
Das Hotel ist ein müder Motor, der schon lange nicht mehr geölt oder gewartet worden ist. Erst kam die lange Krankheit seiner Mutter, dann ihr Tod und seine plötzliche Abreise. Die Zeit ist einfach vergangen, und jetzt blättert die Farbe von den Fensterläden.
Im Schaukasten wellen sich die vergilbten Speisekarten. Der Halter für die Broschüren auf dem kleinen Empfangstresen ist gähnend leer, und das gilt auch für die Zimmer und das Restaurant, in dem die Kupferkessel über dem Kamin braun angelaufen sind.
Die Angestellten haben sich mit irgendwelchen Jobs durchschlagen müssen, während er weg war. Jetzt kommen sie nacheinander zu ihm. Er verspricht ihnen andere Arbeitsbedingungen und eine Lohnerhöhung, und zum ersten Mal hat er keine Lust, sich beim Weggehen umzudrehen, um zu sehen, ob sie ihn hinter seinem Rücken auslachen.
Olivier geht aufrechter. Wenn er seiner eigenen Stimme lauscht, erkennt er sie kaum wieder. Es ist die Stimme eines erwachsenen Mannes und kein zischender Diskant.
Er bezahlt gut, aber nicht zu gut. Der Respekt muß woandersher kommen, und er tut es auch, das merkt er.
Mit dem Dasein als ältlicher Junggeselle, der seiner Mutter am Rockzipfel hängt, ist jetzt endgültig Schluß. Freunde besitzt er keine, nur Angestellte und Lieferanten und ein paar Nachbarn, mit denen er ab und zu ein paar Worte wechselt. Es gibt niemanden, der andere Fragen als die absolut oberflächlichsten stellen könnte, beispielsweise, wie die Reise war oder ob er auf Island gefroren habe. Niemand erwartet Vertraulichkeiten. Sein Geheimnis dort hat das andere abgelöst. Das schwere Geheimnis, das ihn und seine Mutter betraf, darf er für sich behalten.
Das Geheimnis, daß er nicht mehr nur der Hotelbesitzer Olivier Créach ist. Eine Stütze der Gesellschaft, einer, der zum Wohlstand und guten Ruf der Stadt einiges beiträgt.
Er ist auch Olafur, der Liebhaber, der sich ein neues Auto leistet, eine flache und luxuriöse Limousine wie die, die ihn beinahe auf einer Straße in Reykjavík überfahren hätte.
Olafur setzt sich mit größter Selbstverständlichkeit ans Steuer. Er tritt aufs Gaspedal und schlägt den Kurs nach Rennes ein, um den besten Fotoapparat zu kaufen, der auf dem Markt ist.
Die Fotos macht er im Vorübergehen, während seiner täglichen Arbeit mit den Gästen, den Angestellten, dem Einkauf und der Planung. Es ist Winter, und die Saison ist längst zu Ende, es ist ruhig, und er hat genug Zeit.
Immer mehr gelbe Umschläge mit Abzügen treffen ein, während er sich mit Handwerkern darauf einigt, aus der Wohnung im Obergeschoß des Hotels alle Möbel und Erinnerungsgegenstände zu räumen. Sie sollen nicht im Weg sein, wenn sie kommt.
Zuerst will er sie bitten, den ganzen Plunder auf die Müllkippe am Rand der Stadt zu fahren, aber als es endlich soweit ist, verlangt er einen Preis und wird gut bezahlt. Geld kann man immer gebrauchen. Die Sachen werden auf einer Auktion in einer anderen Stadt verkauft, das ist ihm wichtig, denn er will es nicht riskieren, daß sie in den Häusern anderer Leute in der Stadt auftauchen.
Die gelben Umschläge mit den Abzügen türmen sich, und jetzt sind nicht nur die Häuser der Stadt, die Fassade des Hotels, die einlaufenden Boote der Austernfischer, die Fischer in ihrem Ölzeug unten am Speicher und die Kirche mit dem Namen seines Vaters auf einer Gedenktafel zu sehen, sondern auch Bilder eines Zuhauses, das mit der Zeit immer vollkommener wird. Lieferwagen liefern Polstermöbel, ein geblümtes Sofa und Lehnstühle, Tische, Vorhänge und Teppiche, Schränke und Wandborde, Kissen und Kommoden und ein breites, bequemes Bett.
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