Aus dem Speisesaal holt er den großen Spiegel mit dem Goldrahmen. Der Koch hilft ihm dabei, ihn die Treppe hoch zu wuchten, und das zu Oliviers Erleichterung wortlos. Jetzt hängt er oben in den Privaträumen direkt hinter der Tür. Ehe er morgens zur Arbeit geht, stellt er sich davor und übt, sich anzuschauen, ohne den Kopf abzuwenden.
In der Stadt wird geredet, das merkt er, aber nicht mehr voller Verachtung. Die Leute betrachten ihn mit einer Art Bewunderung im Blick, wenn er am Nachmittag, während die Stadt aus ihrem Mittagsschlaf erwacht, die steile Straße zum Meer hinuntergeht.
Die Flut läuft mit kleinen, runden Wellen an der Küste auf, die Möwen stoßen unter einem blauen, grauen oder weißen Himmel ihre Schreie aus, die an ein Lachen erinnern. Es ist derselbe Himmel, es ist dasselbe Meer. In diesem Augenblick sitzt sie vielleicht irgendwo und blickt darüber hin. Seine Hand sucht den Stein in seiner Tasche. Er ist so rund und glatt wie eine nackte Schulter.
Das letzte Foto soll ihn selbst zeigen. Er stellt den Selbstauslöser so ein, wie es in der Bedienungsanleitung beschrieben wird. Dann baut er den Fotoapparat sorgfältig auf einem Stuhl auf und setzt sich dann aufs Sofa hinter den niedrigen Couchtisch und die Vase mit den roten Rosen, die er extra gekauft hat.
Ein Lächeln. Er wartet. Es dauert zu lange, vielleicht hat er ja etwas falsch verstanden. Er will sich gerade erheben, da blendet ihn der Blitz.
Auf dem Foto ist er etwas unscharf. Seine Augen sind seltsam rot, aber es sind seine Augen, wenn sie auch rot sind. Seine glattrasierten Wangen und sein weiches Kinn, sein runder Bauch unter der blauen Wolljacke. Sein schwarzes Haar mit den grauen Schläfen. Das ist er. Olivier. Jetzt muß er es eben drauf ankommen lassen.
Der Stapel Fotos kann jetzt verschickt werden. Er hat die besten ausgesucht und in ein rotes Album mit goldenen Lettern geklebt. Den Brief hat er kurz gehalten. Er hatte schon immer eine schöne Schrift, jetzt ist jeder Buchstabe von seiner Sehnsucht erfüllt.
Die Frau auf der Post, die er seit seiner Kindheit kennt, zieht die Brauen hoch, als er das teure Porto bezahlt. Sie kommentiert es nicht, das wäre ja auch noch schöner. Sie sagt nur: »Guten Tag, Olivier, nett dich mal wieder zu sehen, uns hat das Hotel letzten Sommer gefehlt, aber unter diesen Umständen war das ja verständlich.« Und dann vielen Dank und auf Wiedersehen.
Hochzeiten und Begräbnisse lösen sich im Speisesaal des Hotels ab, dann ist Erstkommunion mit Unmengen von Schalentieren, Pâté und Lammbraten, und Olivier tritt in Carolines Fußstapfen, und es fällt ihm überraschend leicht, Bestellungen entgegenzunehmen, zu organisieren, einzukaufen, Anweisungen zu erteilen und Geld zu verdienen. Er weiß nur zu gut, daß seine Mutter das für ihn getan hat. Nachts liegt er wach und fragt sich, was das alles für einen Sinn haben soll, wenn sie nicht kommt.
Nachmittags, wenn er vom Strand zurückgekehrt ist und die Männer der Stadt zu ihrem Aperitif eintrudeln, steht er hinter der Bar, gießt ein, wischt die Tische ab, leert die Aschenbecher und hält ein Schwätzchen.
Seine Hand sucht nach dem Stein in der Hosentasche.
Er überlegt sich, was aus dem Päckchen geworden ist, das schon längst angekommen sein müßte. Es kann etwas schiefgegangen sein. Das Flugzeug kann abgestürzt sein, im Laderaum des Frachters kann es gebrannt haben.
Die Frau auf der Post kann es aus Ahnungslosigkeit oder Unwillen unterfrankiert haben, und das Päckchen könnte schmählich zurückkommen.
Oder Edda ist, enttäuscht von seinem plötzlichen Verschwinden, umgezogen. Sie hat den Bus nach Norden genommen, und das Päckchen verstaubt auf irgendeinem Postamt in Reykjavík.
Das Wetter wird stürmisch und ungemütlich und hält ihn vom Strand fern. Die Samstagsmesse in der kleinen Kirche wird zu seiner Zuflucht, wenn ihn die Einsamkeit zu sehr belastet. Zwei alte Frauen, die für die frischen Blumen auf dem Altar sorgen und den düsteren Raum fegen, nicken ihm zu und flüstern ein paar Worte in der alten Sprache, wenn er zu seiner Bank geht. Mit ihren Rosenkränzen setzen sie sich ganz nach vorn. Hinten in der Kirche ist er allein.
Dort oben am Altar wird das Wort Fleisch. Wortlos betet er: Werde Fleisch, meine Edda. Laß uns ein Fleisch werden wie Gott und seine Gemeinde. Das ist Blasphemie, aber das ist ihm gleichgültig.
Das harte Holz des Betstuhls drückt gegen seine Stirn und hilft ihm dabei, sich zu konzentrieren, aber der leidende Christus, die Heiligen und die schmachtende Muttergottes aus Gips haben keine Chance gegen eine üppige Frau mit einer Furche auf dem Bauch und appetitlichen Wangen, und wenn er jemanden anbetet, dann bestimmt nicht den Gott seiner Kindheit, der nie seinen wichtigsten Wunsch erfüllte, sondern einfach nur sein Antlitz abwendete.
Die bewölkte und stürmische Weihnacht ist vorüber. Die Natursteinfassade des Hotels ist graunaß, und das Regenwasser schießt die steile Straße zum Meer hinunter. Es tropft vom Mützenschirm des Briefträgers, als er seinen Poststapel auf den Hoteltresen legt.
Eine Tasse Kaffee, um sich die Nase zu wärmen, ist das mindeste, was er ihm anbieten kann. Der Mann läßt sich viel Zeit und berichtet umständlich vom Weihnachtsfest mit Frau, Kindern und Schwiegereltern, während er immer wieder mal einen Schluck trinkt.
Olivier murmelt etwas und legt wie zufällig seinen Zeigefinger auf den dicken Briefumschlag zuoberst.
Er fühlt sich irgendwie wärmer an als alles andere. Ein Herz schlägt darin. Oder er bildet sich das nur ein und ist ein alter Idiot.
Endlich wuchtet sich der Postbote vom Barhocker hoch. Aber dann klingelt das Telefon, der Koch will etwas wissen, und ehe er sich’s versieht, ist Mittag, und ausgerechnet heute gibt es Gäste, die essen wollen. Am Nachmittag kann er endlich schließen.
Unter zwei Schichten Packpapier findet er eine sorgfältig zugebundene Plastiktüte, in der eine kleine Dose liegt. Eine Dose, in der vielleicht einmal ein Stück Seife lag. Aber jetzt ist sie mit rosa Watte von einem Goldschmied gepolstert, feuchter Watte.
Unter der Watte befindet sich ein Lavastein, ein schwarzer, poröser Stein, zwei grüne Herzblätter schauen aus ihm hervor. Vielleicht hat ein Vogel einen Samen verloren, und dieser Samen hat gekeimt.
Etwas Erde braucht man vermutlich, damit eine Pflanze wachsen kann. Olivier hat noch nie in seinem Leben etwas gepflanzt. Caroline pflegte in die langen Blumenkästen unter den Fenstern der Fassade Geranien zu setzen, und diese schienen zu gedeihen, ohne daß man sich um sie kümmerte. Er nimmt einen der kleineren Kupfertöpfe vom Kaminsims im Speisesaal und gräbt dann in der dunklen, nassen Erde unter dem Baum auf dem Hotelparkplatz.
Er fotografiert den Topf und läßt die Aufnahme entwickeln. Sein Schatten ist auf dem Bild zu sehen, aber das macht nichts, dann legt er das Foto in seinen nächsten Brief. Er schreibt im Schnitt zwei Briefe in der Woche. Er zwingt sich dazu, die Zahl zu begrenzen, damit er sich eine Weile auf jeden Brief freuen kann.
Zwei Abende in der Woche sitzt er im Bett und benutzt das Telefonbuch als Unterlage. Die Bewegungen des Kugelschreibers lassen ihn innerlich ganz ruhig werden. Mit dem Kugelschreiber in der Hand spricht er hoffnungsvoll mit ihr, über das Wetter und die ereignislosen Tage, die sich unendlich aneinanderreihen, da sie nicht da ist.
Meist geht es um die Arbeit, aber in letzter Zeit schreibt er auch über alte Schulkameraden, die sterben. Sie hatten ihn als Kind gehänselt. Jetzt geht er auf ihre Beerdigungen. Sie sterben, weil sie jahrelang gesoffen haben. Er hat ihrem Niedergang zugesehen. Andere sterben an Krebs oder Herzkrankheiten. Von den meisten weiß er nicht, ob sie glücklich oder unglücklich gewesen sind. Jetzt nimmt er von ihnen Abschied. Ohne Schadenfreude und ohne Groll.
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