Ich könne sie mitnehmen, sagte ich zu den anderen. Sie haben es immer eilig nach Hause, weil die Kinder in die Schule müssen.
Auf mich wartet niemand.
Olafur ist weg. Gestern ist er wie immer gegangen, während ich schlief. Aber er ist nicht zurückgekommen. Wahrscheinlich hatte er das Ganze über, obwohl er nicht den Eindruck erweckt hat. Jedenfalls ist er weg.
Im Bett ist es leer ohne ihn. Vermutlich soll es so sein. Einen Mann will ich nicht. Nicht einmal Olafur. Nicht einmal ihn. Aber ich hätte ihm gern Lebewohl gesagt.
Gunlaug und Thorunn haben nach ihm gefragt. Sie dachten vermutlich, ich sei traurig. Vielleicht bin ich das auch.
Sie ist nicht alt, sieht aber älter aus. Eine schwere Frau, die hinter meinem Fahrrad hertrottete. Die schlurfte. Es regnete, und ihre Schuhe wurden naß. Hohe, schiefe Absätze. Ihre Kleider sitzen schlecht. Vielleicht hat sie kürzlich zugenommen und hatte keine Zeit, neue zu kaufen. Die Bluse sitzt zu eng, und es sieht so aus, als würden gleich die Knöpfe abspringen. Ihre Brüste sind größer als meine. Groß und kugelrund wie zwei Fußbälle in einem Netz.
Olafur hat an meinen Brüsten gesaugt wie ein kleines Kind und mich gleichzeitig mit seinen dunklen Augen angesehen. Seehundsaugen. In mir habe ich eine große Hand gespürt, eine warme Hand. Trost.
Vielleicht ist es geglückt. Vielleicht brauche ich niemand anderen mehr zu suchen. In einem Monat weiß ich es sicher.
Seine Lippen sind rot. Rote Lippen in einem großen Gesicht. Die Haut nicht sonderlich straff. Jedenfalls nicht, als er kam. Jetzt ist er wieder rundlich. Man kann sich an ihn ankuscheln, und er riecht gut. Er riecht, wie ein Mann riechen soll. Nicht nach Schnaps, nicht nach Angst und auch nicht nach Rachsucht. Nicht nach Bösartigkeit. Nur gut.
Wohin sie wolle, frage ich sie, nachdem wir ein Stück gegangen sind. Sie weiß es nicht. Wir trotten weiter. Es regnet in Strömen, und ich würde mich am liebsten aufs Fahrrad schwingen und lossausen. Nach Hause zu meinem warmen Bett. Obwohl es verwaist ist.
Plötzlich kriegt sie einen Koller und rennt los. Um die Ecke, die Straße entlang, in einen Hinterhof.
Ein Auto fährt vorbei. Um diese Tageszeit ist sonst nicht viel Verkehr. Vielleicht hat sie sich deswegen aus dem Staub gemacht. Wer in dem Auto saß, konnte ich nicht erkennen.
Ich bleibe stehen und warte darauf, daß sie zurückkommt. Dann gehe ich weiter. Aber nach einer Weile höre ich sie hinter mir. Sie rennt und ist ganz außer Atem. Der Absatz des einen Schuhs ist abgebrochen. Sie steht auf bloßen Strümpfen in einer Pfütze.
»Polizei«, sage ich. »Vielleicht solltest du zur Polizei gehen. Die können dir helfen.«
Sie packt mich am Arm. Sie weint. Sie fleht mich inständig an, eine Bleibe für sie zu finden. Nur für einen Tag, vielleicht auch zwei. Ein Versteck, bis sie in Sicherheit ist.
Jetzt beginne ich zu verstehen. Sie ist ein Flüchtling. Sie will nicht zurückfahren. Nach dem, was man so gehört hat, ist das vermutlich klug. Wenn sie nicht in den Verdacht geraten will, eine Spionin zu sein. Wenn sie nicht nach Sibirien geschickt werden will. Oder noch Schlimmeres.
Olafur ist weg, und ich habe noch immer zwei von allem. Zwei Teller, zwei Gläser, zwei Messer, zwei Gabeln.
Jetzt habe ich einen neuen Gast. Vielleicht soll das ja so sein.
Keine Ehrendelegation wartet vor der Polizeiwache.
Kein Journalist hat an ihrem Schicksal Interesse gezeigt. Die internationale Presse hat in dem Moment, als das Turnier entschieden war, die Insel wie ein Heuschreckenschwarm verlassen, und Reykjavík kehrt mit einem Seufzer der Erleichterung zur Normalität und zu wichtigeren Nachrichten über den Fischereikrieg und die Grenzen der Hoheitsgewässer zurück.
Wladimira ist bestenfalls bedeutungslos, schlimmstenfalls eine Belastung der internationalen Beziehungen, ein Fleck auf dem frisch gereinigten Anzug irgendeiner Person.
Wenn er doch bloß mit ihr zusammengeblieben wäre, dann wären sie ein gefragtes Paar. Niemand fragt nach ihren Geschichten. Ohne ihn gibt es sie nicht.
Eine vorläufige Aufenthaltsgenehmigung kann man ihr anbieten und Geld für das Nötigste.
Ein paar vernünftige Halbschuhe statt ihrer havarierten Pumps. Eine Strickjacke. Ein Regenponcho. Alles unglaublich teuer. Ein Schirm für den strömenden Herbstregen liegt definitiv außerhalb ihrer Möglichkeiten.
Notdürftig eingekleidet. Weder hungrig noch satt. In der Warteschleife, ohne zu wissen, worauf sie wartet und was sie zu erwarten hat, wenn überhaupt etwas.
Eine Matratze vom Speicher der Nachbarin stellt ihr Nachtlager dar. Die Wolldecke taucht wie ein Wunder auf, Edda hat sie von der Heilsarmee bekommen. Sie ist grau und so schwer, als sei sie durch und durch feucht.
Wladimira hat ihr ganzes Leben beengt und umgeben von Menschen verbracht, und es macht ihr nichts aus, am Fußende von Eddas Bett zu schlafen, zu ihren leisen Seufzern und Schmatzern einzuschlafen und von ihrem Schnarchen zu erwachen.
Zu zweit sitzen sie am Wachstuch des Tisches, erwachsene Frauen mit gesundem Appetit. Edda reicht ihr die Töpfe, und Wladimira beobachtet sich selbst, wie sie einmal von dem Fisch, den Kartoffeln und der dicken weißen Sauce nimmt und noch einmal und noch ein weiteres Mal, also mindestens einmal zuviel, und trotzdem fühlt sich ihr Magen immer noch leer an.
Edda sieht weg, sie trinkt einen Schluck Milch und leert das Glas dann mit zwei, drei weiteren Schlucken. Ihr Blick schweift in die Ferne. Etwas hinter Wladimiras Schulter muß interessant sein, vielleicht ist es aber auch peinlich, daß jemand soviel essen kann, obwohl er nicht dafür bezahlt hat, aber Edda sagt nichts, sondern räumt einfach die Teller vom Tisch und spült sie unter fließendem Wasser ab.
Wladimira hält beide Hände ins warme Schwefelwasser des Spülbottichs und planscht mit der Spülbürste zwischen Geschirr und Gläsern, bis alles blitzt, einer der wenigen genüßlichen Momente im Verlauf der grauen und eintönigen Tage.
Das Spülen hat sie übernommen, die Böden putzt sie jeden Freitag, und während Edda bei der Arbeit ist, staubt sie die Möbel ab und schrubbt die kleine Toilette mit einem stark riechenden Pulver. Das ist das mindeste, was sie tun kann. Edda läßt sie nie spüren, daß sie ihr im Weg wäre oder daß sie etwas von ihr erwarten würde. Ihr bisheriges Leben war angefüllt mit Pflichten, Studien, Arbeit, Planung, Eilaufträgen und Verrichtungen, mit Sorge um die Mutter und unermüdlichen, täglichen Besorgungen für den Haushalt, mit Hamstern, Tauschhandel, Kopfrechnen und raschen Kaufentschlüssen, ehe ihr jemand zuvorkam. Jetzt sind ihre Tage konturlos und so durchsichtig wie eine Qualle.
Edda badet jeden Tag in der Badeanstalt, aber das kostet Geld, mehr als Wladimira annehmen kann.
Es ist auch so schon zuviel. Das Essen. Die Seife, mit der sie sich wäscht. Die samtweichen Binden aus dem Kleiderschrank, von denen ihr Edda welche abgibt, ein unglaublicher Luxus.
Wladimira wäscht sich mit einem Waschlappen in der Küche. Einmal in der Woche kocht sie den Lappen und ihre Unterhosen in einem Topf auf dem Herd aus und wäscht ihre Hemdbluse, ihren Büstenhalter, der mit immer größerer Mühe sauber wird, und das eine ihrer zwei Paar Strümpfe mit der Hand. Edda hat ihr gezeigt, wie das geht. Edda ist geschickt mit den Händen. Bei ihr sieht alles immer so unkompliziert aus. Sie verschüttet nie Spülwasser auf dem Küchenfußboden und verbrüht sich auch nicht am Dampf des Wasserkessels, so daß sie Margarine auf die Brandblasen schmieren muß.
An ihrem freien Tag schläft Edda lange, und für die Ruhepause nach der Arbeit und nach dem Besuch der Badeanstalt, die sonst immer eine Stunde dauerte, braucht sie in letzter Zeit zwei. Die Wochen vergehen, und es werden drei oder vier.
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