Das Niveau der Ich-Störung lässt sich auch in der Verwendung der Abwehrmechanismen erkennen. Mentzos (ebd., S. 60 ff.) unterscheidet verschiedene Ebenen der Abwehrmechanismen und der sogenannten Selbstkompensationen. Archaische Abwehrmechanismen werden von frühen Störungen verwendet, reifere Abwehrmechanismen von den Psychoneurosen. Früh versteht sich dabei als Ausdruck der Schwere der Störung, was die Hypothese beinhaltet, dass diese Störungen bereits Konflikte der frühen Entwicklungsstufen nicht lösen konnten und so Fixierungen auf frühesten Stufen seelischer Entwicklung aufweisen, die die Lösung der Konflikte späterer Stufen beeinträchtigten. Dies wird auch als genetisches Modell der Psychoanalyse bezeichnet. Frühe nicht gelöste Konflikte und ihre Folgen sind schwerwiegender, weil sie in die Phase der Konstituierung des Selbst fallen und somit dessen Struktur und Konsistenz beeinflussen.
Abwehrmechanismen sind unbewusst ablaufende Vorgänge, die zwar primär Ich-Funktionen mit Schutz- und Bewältigungsaufgaben darstellen, die aber in der Symptombildung pathologisch werden und den Konflikt nicht lösen, sondern lediglich abwehren und somit aufrechterhalten. Der Konflikt bleibt aktiv und zwingt das Ich zu immer neuen Abwehrleistungen. Die Abgrenzung zwischen normaler Bewältigungsarbeit und pathologischer Abwehr ist dabei nicht immer leicht zu ziehen. Manche Abwehrmaßnahmen können dem Ich Zeit geben, den Konflikt zu bewältigen. Kriterien für das Pathologische eines Abwehrvorganges sind seine Rigidität, die Einschränkung der Ich-Funktionen und der Widerstand gegen die Bewusstmachung des zugrunde liegenden Konfliktes.
Folgende Abwehrmechanismen können vom Ich verwendet werden (vgl. Mentzos 1984, S. 60 ff.; A. Freud 1936):
Auf der untersten Ebene wird der Konflikt auf Kosten einer angemessenen Realitätswahrnehmung abgewehrt:
• Die psychotische, wahnbildende Projektion verändert die Realität mit Hilfe der Projektion. Eigene, unerwünschte Impulse, meist sexuelle wie im Liebeswahn oder aggressive wie im Verfolgungswahn, werden einer anderen, äußeren Person unterstellt.
• Bei der psychotischen Verleugnung werden Ereignisse oder Affekte scheinbar nicht wahrgenommen, zum Beispiel die Behinderung eines Kindes.
• Die Spaltung hält inkompatible Inhalte auseinander. Ambivalenz ist nicht möglich, eine Person der Außenwelt erscheint beispielsweise als nur gut oder nur schlecht. Beide Inhalte sind bewusst, die Wahrnehmung des einen oder anderen Inhalts wird lediglich zeitweise verleugnet. Die Wahrnehmung kann zudem blitzschnell von gut nach böse und umgekehrt kippen.
• Die Introjektion ist, wie die Projektion auch, ein wichtiger Vorgang bei der Entstehung des Selbst in der normalen Entwicklung, kann auch für Abwehrvorgänge verwendet werden, wenn sie die Selbst/Objekt-Unterscheidung zu vermeiden oder rückgängig zu machen sucht. Das Subjekt glaubt dann, jemand anders zu sein.
Auf der zweiten Ebene werden ebenfalls unreife, aber die Realität nicht mehr ganz so grob verzerrende Abwehrmechanismen eingesetzt:
• Die nichtpsychotische Projektion unterstellt eigene Gefühle, Impulse, Tendenzen unbewusst einer anderen Person, zum Beispiel Menschen anderer Kulturen.
• Die Identifikation, zum Beispiel die Identifikation mit dem Aggressor, dem Angreifer, wehrt Angst ab, indem anderen das angetan wird, was man selbst am meisten fürchtet. Es gibt auch hysterische Identifikationen, bei denen Trennung oder seelischer Schmerz abgewehrt wird, indem beispielsweise Symptome einer anderen Person übernommen werden (Husten des verstorbenen Elternteils).
Auf der dritten Ebene befinden sich die psychoneurotischen Abwehrmechanismen:
• Die Intellektualisierung wehrt Affekte ab, indem sie Emotionales in affektloser Art behandelt, sich mit kognitiven Aspekten des Lebens beschäftigt, um das Emotionale besser verdrängen zu können.
• Die Affektualisierung ist das Gegenstück zur Intellektualisierung. Durch eine Art Überemotionalisierung und Dramatisierung sollen Inhalte oder Affekte, meist entgegengesetzte Emotionen, abgewehrt werden.
• Die Rationalisierung liefert sekundäre Rechtfertigungen von Verhaltensweisen durch Scheinmotive, um so von dem eigentlichen Wunsch oder Impuls abzulenken. Das sadistisch motivierte Verhalten eines Pädagogen kann beispielsweise mit pädagogischen Theorien begründet und rechtfertigt werden.
• Die Affektisolierung trennt Inhalt und Affekt, wobei der Inhalt bewusst bleibt, der Affekt dagegen wird verdrängt. So kann jemand scheinbar affektlos über einen begangenen Mord reden, nicht, weil er keine Affekte wie Schuldgefühle und Hass hat, sondern weil diese verdrängt sind.
• Das Ungeschehenmachen macht einen Impuls durch entgegengesetzte Gedanken oder durch einen magischen symbolischen Akt ungeschehen.
• Die Reaktionsbildung ist ein dem Ungeschehenmachen ähnlicher Mechanismus, allerdings werden die unerwünschten und unerlaubten Impulse durch entgegengesetztes Verhalten und Haltungen auf Dauer und habituell abgewehrt. Die Mutter eines behinderten Kindes kann ihre Todeswünsche dem Kind gegenüber durch besonders überfürsorgliches, überbehütendes Verhalten abwehren. Im Unterschied zur Fürsorge aus Liebe ist das Verhalten eher zwanghaft und unflexibel.
• Die Verschiebung ist eine Loslösung emotionaler Reaktionen von ihren ursprünglichen Inhalten und die Verknüpfung mit anderen, weniger wichtigen Situationen oder Gegenständen. Klassisches Beispiel ist die Phobie, wenn beispielsweise ein Kind beim Anblick des gerade geborenen Brüderchens in den Armen der Mutter die Angst, die Liebe der Mutter verloren zu haben, auf einen Aufzug verschiebt und nun Angst hat, Aufzug zu fahren.
• Die Verlagerung richtet unerwünschte oder unerlaubte Impulse, meist Aggression, auf ein anderes als das eigentliche Objekt. Die Wut auf den Chef wird auf die Ehefrau verlagert.
• Die Wendung gegen das Selbst kann eingesetzt werden, wenn Aggression nicht nach außen gegen ein Objekt gerichtet werden kann, meist weil das Objekt fehlt oder weil die Schuldgefühle zu groß sind.
• Die Wendung von der Passivität in die Aktivität ermöglicht die Abwehr angstvoller, passiv erlebter Situationen durch eigenes aktives Verhalten. Das Kind spielt beispielsweise nach einem Zahnarztbesuch, dass es selbst die Zähne der Puppen untersucht.
• Die Verdrängung im engeren Sinne dient der Unbewusstmachung, wobei bei fast allen Abwehrmechanismen der dritten Ebene Verdrängung im weiteren Sinne eine Rolle spielt.
Auf der vierten Ebene werden Vorgänge wie Sublimierung und Neutralisierung angesiedelt. Bei der Sublimierung werden verdrängte Triebimpulse in sozial positiv gewertete Tätigkeiten verwandelt. Diese Form der gelungenen Anpassung ermöglicht dann sowohl Triebabfuhr als auch Anpassung. Neutralisierung meint dagegen auf einer allgemeineren Stufe den Wechsel libidinöser und aggressiver Triebenergie zu einem nichttriebhaften Modus. Die Frage, ob Sublimierung immer Triebverzicht voraussetzt, wurde von Freud bejaht, ist aber heute umstritten.
Wir möchten den klassischen Abwehrmechanismen noch diejenigen anfügen, die speziell der Abwehr narzisstischer Konflikte dienen.
• Die Sexualisierung dient der Abwehr schmerzhafter Affekte, zum Beispiel Schamgefühlen, indem die ganze narzisstische Konfiguration sexualisiert wird. Durch aktive, sexuelle Handlung kann die Situation dann toleriert werden.
• Die Regression in den primären Zustand ist gekennzeichnet durch Rückzug von äußeren Objekten und Sich-Verlieren in Verschmelzungsfantasien.
• Die Verleugnung durch Größenfantasien in Form eines Größen-Selbst dient der Aufrechterhaltung eines narzisstischen Gleichgewichts, das durch Angst, Hilflosigkeit oder Kränkung in Gefahr gerät.
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