Der heiße Kaffee brannte auf ihren Lippen. Das Handy zeigte zwei Anrufe an. Die Mailboxstimme informierte sie, dass der erste um 7.30 Uhr eingegangen war. Beide Anrufe kamen vom NRK. Sie hatten mehrmals versucht, sie anzurufen, sowohl über das Festnetz als auch auf ihrem Handy. Ein milde ausgedrückt irritierter Moderator wunderte sich, wo sie bliebe.
Die Lokalnachrichten um zehn begannen mit einer Meldung über die tote Frau. »Eine Frau wurde gestern in der Nähe des Mesnaelva in Lillehammer tot aufgefunden. Die Polizei ermittelt, kann über die genaueren Umstände zum jetzigen Zeitpunkt jedoch noch nichts bekannt geben. Die etwa dreißig- bis vierzigjährige Frau wurde gestern gegen halb eins von einer Spaziergängerin entdeckt. Die Polizei bittet um Hinweise ...« Das Erlebnis kam wieder näher, die Radiostimme zog sie in das Geschehen hinein. Eine zufällige Spaziergängerin. Das bin doch ich, dachte Tone. Die Tote hatte vorläufig noch keinen Namen und keinen Heimatort. Das konnte nur bedeuten, dass die Polizei ihre Identität noch nicht kannte.
Vielleicht hatte die Lokalzeitung mehr. Sie schloss die Tür auf, trat in den Herbsttag hinaus und ging langsam den kurzen Weg zum Briefkasten. Auf dem Rückweg zwang sie sich, zu der dunklen Türöffnung des Schuppens hinüberzusehen. Wahrscheinlich hatte sie die Tür nicht richtig verriegelt. Während sie geschlafen hatte, musste ein Windstoß an der Tür gerüttelt haben, sodass das Schloss aufgesprungen war. Was sollte es sonst gewesen sein?
Drinnen stürzte sie sich auf die Zeitung. Der Fund der toten Frau war der Aufmacher. Er nahm fast die ganze Titelseite und noch eine weitere Seite ein. Auch hier nichts über ihre Identität. Es war nicht sicher, ob sie aus der Gegend war, stand in dem Leitartikel. Auch die Spaziergängerin wurde erwähnt. Sie verständigte sofort die Polizei. Diese hat ein größeres Gebiet um den Fundort abgesperrt und ermittelt die Todesumstände, äußert sieb jedoch weder über ein Fremdeinwirken noch über mögliche Verdächtige. Unseren Informationen zufolge sollen kurz vor der Entdeckung der Toten zwei Männer auf dem Weg gesehen worden sein, der am Fluss entlangführt.
Diese Information stammte von ihr. Und jetzt wusste sie auch, wer einer der Männer war. Die Polizei bittet Passanten, die sich in dem Gebiet aufgehalten haben, sich zu melden. Jeder, der etwas gehört oder gesehen haben könnte, wird aufgefordert, sich mit einer Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen. Die Polizei hat ein größeres Gebiet nach Beweismaterial abgesucht, will vorläufig jedoch weder bekannt geben, welche Spuren sie verfolgt, noch welche Theorien über das Geschehen vorliegen.
Irene Eikeli hatte ihr geraten, der Polizei von Håkon Arfoss zu erzählen. Tone war sich nicht sicher und kam zu dem Entschluss, damit noch zu warten.
Sie musste Emma anrufen. Nur um ihre Stimme zu hören. Ihr Handy war ausgeschaltet und der Anrufbeantworter forderte sie auf, eine Nachricht zu hinterlassen. Sie ist sicher in Blindern, dachte Tone und teilte ihr kurz mit, dass sie am nächsten Abend in die Stadt kommen werde. Emma studierte im zweiten Jahr und hatte die kleine Zweizimmerwohnung, die Tone noch immer in Oslo besaß, unter der Bedingung übernommen, dass Tone an den Tagen, an denen sie in der Stadt zu tun hatte, dort wohnen konnte.
Das örtliche Büro des NRK rief am Vormittag an. Sie wollten Tone für die Aktuelle Stunde um 12 Uhr haben. Sie sagte mit Entschiedenheit Nein. »Du solltest doch schon heute Morgen dabei sein«, sagte die Mitarbeiterin am anderen Ende. Tone bestand darauf, dass sie nichts versprochen hatte, und schaffte es, neue Überredungsversuche abzuwehren.
Dann beschloss sie, zu arbeiten, und schaltete den PC ein. Zuerst sah sie die E-Mails durch. Fünf neue Mails, eine davon von Håkon Arfoss. Sie verspürte Widerwillen, sie zu öffnen. Schob es hinaus, indem sie erst die anderen Nachrichten las. Ein Chefredakteur erkundigte sich nach dem Beitrag, den sie über eine Schlankheitskur machen sollte. Irene Eikeli fragte, wie es ihr gehe. Karl-Erik, einer ihrer drei Chatfreunde, wollte wissen, ob sie Freitagabend in Oslo sei. Er war bisher der Einzige, bei dem es geknistert und mit dem sie sich auf der gleichen Wellenlänge gefühlt hatte. Leider war er verheiratet, wie sich im weiteren Verlauf des Abends herausgestellt hatte. Und jetzt besaß er die Frechheit, ein neues Treffen vorzuschlagen. Er war sich sicher, dass ein weiterer Kontakt ihnen beiden Vergnügen bereiten werde, schrieb er.
Eine der Mails kam von einem unbekannten Absender und war um 0.30 Uhr abgeschickt worden, kurz nachdem sie nach Hause gekommen war. Neugierig begann sie zu lesen. Mann, 44, sucht Frau in der Nacht. Und findet dich, Frau, 42, blond und blauäugig. Nicht zu blauäugig, denke ich. Mit unverbrauchtem Lebensmut, aber ohne Mann an deiner Seite. Ich glaube, du bist eine Frau, die die Männer anzieht, wenn du dein wahres Gesicht zeigst. Der Zufall will es, dass du gerade jetzt alleine bist und im Dunkeln nach Kontakten suchst. Wie auch ich ... Der Brief war mit Orion unterzeichnet. Sowohl der Ton wie auch das, was dort stand, sprachen sie an. Er hatte ihr Profil gelesen, erzählte aber nur wenig über sich und seine Lebenssituation. Nächtliche Gedanken. Tone beschloss, zu antworten, nicht viele Worte, doch genug, um Interesse zu signalisieren.
Håkon Arfoss hatte seine Mitteilung eine halbe Stunde, nachdem sie sich vor dem Hotel verabschiedet hatten, geschrieben: Warum spielst du nicht mit offenen Karten? Um es direkt zu sagen: In der nächsten Woche ist nichts in deinem Terminkalender eingetragen. Ich habe nachgesehen, als du draußen warst und telefoniert hast. Du hast behauptet, du hättest da schon eine Verabredung. Aber irgendwie habe ich gespürt, dass du bluffst. Deshalb habe ich nachgesehen. Du findest das vielleicht unverschämt, aber ich habe meinen Verdacht bestätigt.
Ich hatte den Eindruck, dass wir uns heute Abend gut verstanden haben, die Unterhaltung kam allmählich in Gang, nachdem du etwas aufgetaut warst, und die Stimmung hat mich glauben lassen, dass sich etwas Spannendes daraus entwickeln könnte. Wenn du deine Kontaktsuche über das Internet ernst meinst ..., dann musst du deine Haltung ändern und den Leuten mit mehr Respekt begegnen. Aber vielleicht verbirgst du ja irgendetwas?
Tone las es noch einmal. Aber vielleicht verbirgst du ja irgendetwas? Am früheren Abend hatte er etwas Ähnliches gesagt. Was wusste er? Sie musste bald die Polizei informieren.
Die Unruhe trieb sie vom PC in die Küche und zum Fenster. Die Schuppentür stand noch immer weit offen. Sie wusste, was sie zu tun hatte.
In der Zeit, seit sie allein hier wohnte, hatte Tone gelernt, der Angst ins Auge zu sehen. Das Übel bei der Wurzel zu packen. Jedes Mal wenn sie ein unheimliches Geräusch im Haus hörte, zwang sie sich, nachzusehen, wo es herkam, und der Sache nachzugehen. Antworten zu finden, um wieder rational denken zu können. Jetzt ging es um eine Tür, die ohne Erklärung aufgegangen war.
Die Angst sagte ihr, dass jemand im Schuppen sein könnte. Aber die Vernunft half ihr, die zwanzig Meter zu gehen. Sie war auf der Hut, für alle Fälle. Ihr Puls stieg, als sie den Schuppen betrat. Es gab kein Licht und sie musste mit dem spärlichen Tageslicht auskommen. Ein paar Sekunden blieb sie still stehen. Außer einem Traktor in der Ferne war kein Laut zu hören. Hier war niemand, stellte sie fest. Es musste der Wind gewesen sein. Ihr Fuß trat gegen etwas, das auf dem Boden lag. Ein Spaten oder ein Rechen, der umgefallen war. War das auch der Wind? Oder war es ihr irgendwann passiert? Vielleicht war ein Tier hereingekommen, während die Tür offen stand? Als sie sich hinunterbeugte, um das Gerät aufzuheben, entdeckte sie auf dem Boden einen kleinen weißen Zettel. Sie hob ihn auf und steckte ihn in ihre Tasche. Sie mochte nicht länger hier sein. Sie trat hinaus, machte die Tür hinter sich zu. Und dann war es vorbei, für dieses Mal. Ihre Beine drohten, sie im Stich zu lassen, als sie zurück zum Haus ging.
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