Eine solche Qualifizierung ist hier so wenig wie in anderen Strophen des Gedichts selbstverständlich. Sie setzt voraus, dass der Prophet die Rolle der Opfer einnimmt. Denn wie das „Dreschen“ von Landschaften oder das Aufschlitzen von Schwangeren kann auch die Schändung von Gräbern auf das Konto der Ruhmestaten eines Königs gebucht werden. Für den assyrischen König Assurbanipal (668 – ca. 630 v. Chr.) ist es ein legitimer Vorgang, die Gräber des Königs von Elam geöffnet zu haben: „I took their bones to the land of Assyria, imposing restlessness upon their ghosts. I deprived them of ancestral offerings (and) libations of water.” 50Solche Heldentaten damaliger Könige werden im Völkergedicht von Am 1–2 durchgängig als Verbrechen gekennzeichnet.
2,2Die folgenden Elemente des Moabspruchs verbleiben ganz im für die Völkersprüche Üblichen. Wie immer sind durch das Feuer die Paläste bedroht, also die Wohnsitze der Mächtigen. Im Parallelismus zum Land Moab wird die Stadt Kerijot genannt, die also als die Hauptstadt des Landes angesehen wird. Die Stadt findet auf der Stele des moabitischen Königs Mescha aus dem 9. Jh. Erwähnung, wonach sich in ihr ein Heiligtum des Nationalgottes Kemosch befindet. 51Außerdem wird sie in Jer 48,24 in einer Aufzählung moabitischer Städte und in Jer 48,41 als einzige und also wohl wichtigste Stadt des Landes genannt.
2,3Das 5. Formelement, die Erweiterung durch weitere Drohungen, zeigt zum einen wie bei der Ammoniterstrophe, dass die Katastrophe für Moab durch kriegerische Ereignisse kommt. Zum andern sind wie in den anderen Strophen, die dieses Element enthalten, ausdrücklich die Herrscher als primäres Ziel der Vernichtung genannt, hier der „Regent“ (שׁופט, šôfēṭ ). Ihm zur Seite stehen, wie dem König der Ammoniter, „seine Beamten“.
2,4Sprüche mit Vernichtungsdrohungen gegen fremde Völker können so verstanden werden, dass in ihnen indirekt dem eigenen Volk Bestand und Zukunft zugesprochen wird, weil eben die Feinde ausgeschaltet sein werden. Dieses Verständnis wird in den ersten sechs Strophen des Zyklus von Am 1–2 noch nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Gewiss irritiert es, dass in der Damaskus- und Ammoniterstrophe den Bedrohten Vergehen vorgehalten werden, die auch in Israel begangen werden, und dass es in der Moabstrophe gar nicht um ein Vergehen geht, das gegen Israel gerichtet ist. Aber mehr als eine Irritation ist das nicht. Das ändert sich schockartig mit den letzten beiden Strophen des Zyklus. Sie sind gegen das eigene Volk gerichtet, gegen Juda und gegen Israel.
Dass den Größen Juda und Israel je eine eigene Strophe gewidmet ist, zeigt, dass die Situation der Königszeit mit dem Nebeneinander der beiden so benannten Staaten im Auge ist. In dieser Situation verortet bereits die Überschrift den Propheten Amos. Und zum Ende des Buches hin wird sie in der Bet-El-Erzählung erneut vorausgesetzt, indem der Amos dieser Erzählung aus Israel „in das Land Juda“ ausgewiesen wird (7,12). Durch die Überschrift in 1,1 und das Nebeneinander von Juda- und Israelstrophe am Zielpunkt des Völkerzyklus wird zum einen eine Leseanleitung ausgegeben: Wenn im weiteren Text von Israel die Rede ist, ist zunächst von der Vermutung auszugehen, dass damit das Nordreich gemeint ist. Zum andern wird für die Lektüre die Frage mitgegeben, ob es bei Israel und Juda um dieselben Vergehen und Zukunftsaussichten geht, oder ob beide Größen im Blick auf die kritisierten Zustände wie auch auf die Zukunftsperspektiven ein je eigenes Profil haben.
Was die kritisierten Zustände angeht, lässt bereits die Judastrophe keinerlei Unklarheit zurück: Das, was Juda hier vorgeworfen wird, ist singulär und erscheint so gegenüber Israel nicht. Juda habe, so heißt es, „die Weisung Jhwhs verschmäht und seine Gebote nicht gehalten“. Die Wendung „sie haben die Tora Jhwhs verschmäht“ kommt nur dreimal in der Hebräischen Bibel vor. In Jes 5,24 werden die in den voranstehenden Weherufen (5,8–23) genannten Vergehen zusammengefasst: „Alle Sünden, die mit einem ‚Wehe‘ bedacht worden sind, stehen im Widerspruch zur ‚Tora‘, zum ‚Wort‘ Gottes …“. 52In Jer 6,19 kann sich der göttliche Vorwurf, sie hätten „meine Tora verschmäht“, „entweder auf die zumindest großteils bereits verschriftet vorliegenden Bücher Genesis bis Deuteronomium beziehen, oder aber allgemein auf göttliche Belehrung“. 53An unserer Stelle werden gar keine anderen Vergehen genannt. Der Ausdruck „die Tora Jhwhs“ wird absolut gebraucht. Im Parallelismus steht: „und seine Gebote haben sie nicht gehalten“. Die Phrase vom Halten der Gebote („seine Gebote halten“: שׁמר חקיו, šāmar ḥuqqāw ) ist im Deuteronomium geläufig (Dtn 4,40; 6,17; 7,11 u. ö.) und wird in der deuteronomistisch geprägten Literatur aufgegriffen (1 Kön 3,14; 8,58; 9,4 u. ö.). An diesen Stellen ist immer an die schriftlich vorliegende Tora gedacht (in Dtn 17,19 stehen „Tora“ und „Gebote“ auch zusammen).
Für Am 2,4 heißt dies zweierlei. Zum einen versteht der Text unter der Tora Jhwhs, die Juda missachtet habe, anders als in Jes 5,8–24, nicht nur einzelne Verfehlungen, sondern den zusammengefasst mündlich oder auch schon schriftlich vorliegenden Gotteswillen. Dieser Vorwurf ist so umfassend, dass die anschließende Vernichtungsdrohung verständlich wird. Zum andern aber impliziert der Vorwurf, dass Juda die Tora Jhwhs besitzt und kennt. Es hätte durchaus die Möglichkeit, sie zu halten und, statt sie zu verschmähen, sie zu erwählen. Denn „erwählen“ (בחר, bāḥar 1) ist die semantische Opposition zu „verschmähen, verwerfen“ (מאס, māʾas ) (2 Kön 23,27; Jes 7,15f. u. ö.).
Die Verlängerung des Vorwurfs in einer zweiten Zeile präzisiert die Vorhaltung und gibt sogleich den Grund für das Fehlverhalten an. Die Rede ist von „Lügen“, „hinter denen ihre Vorfahren hergelaufen waren“. Nun wird die Phrase „hinter jemand herlaufen“ (הלך אחרי, hālak ʾaḥarēj ) in deuteronomisch-deuteronomistischer Sprache stereotyp mit dem Objekt „hinter anderen Göttern herlaufen“ konstruiert (Dtn 8,19; 11,28; 13,3 u. ö.). Daher hat man vermutet, dass auch hier in Am 2,4 die „Lügen“ für „Lügengötter“ stehen. 54Allerdings heißen fremde Götter sonst nirgends „Lügen“, während häufig der Vorwurf gegen Propheten erhoben wird, dass sie „lügen“, oft auch mit der Wurzel כזב ( kzb ) (Ez 13,6–9; 22,28; Mi 2,11). Propheten sind es auch immer wieder, die „irregehen lassen“ (Jer 23,13.32; Mi 3,5). So liegt es nahe, dass mit den „Lügen“ hier die Propheten kritisiert werden, die „sie – nämlich die Judäer und Judäerinnen – irregehen ließen“. 55
Dazu wird behauptet, schon die Vorfahren seien hinter den Lügenpropheten hergelaufen, und diese ließen nun auch die aktuellen Judäer irregehen, sodass sie die Tora Jhwhs verschmähen und seine Gebote nicht halten. Anders als bei den Völkern kommt mit dem Verweis auf die Vorfahren geschichtliche Tiefe in die Beschuldigung. Ein Schuldzusammenhang, der aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirkt, wird konstruiert. Er entschuldigt nicht. Das gegenwärtige Juda ist für sein Tun verantwortlich. Ein solcher Schuldzusammenhang ist aber auch kein unentrinnbares Schicksal. Das gegenwärtige Juda könnte sich von den Lügenpropheten abkehren und zur Tora Jhwhs umkehren.
Wenn die Deutung der „Lügen“ auf Lügenpropheten zutrifft, eröffnet Am 2,4 eine Linie, die sich durch das gesamte Buch zieht. Gegen Israel wird der Vorwurf erhoben, man habe den Propheten das Wort verboten (2,12). 56Amos selbst beansprucht für sich absolute prophetische Autorität (3,8). Und in der Bet-El-Erzählung (7,10–17) wird die Frage aufgeworfen, ob schließlich nicht doch noch die Amos-Worte in Juda zu Gehör kommen werden.
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