Und was vermißte der Vater bei ihnen? Hirsekorn sagte es seinen Kindern nicht. Nicht alle ihre Interessen konnten seine Interessen sein. Ja, Marianne, ach die, die hatte es verstanden, mit den Kindern jung zu sein oder wenigstens zu scheinen! Sie war eine Mutter – eine Großmutter – und was vermöchte die nicht? Es war ihr gewiß manchmal zu viel geworden, wenn die Tochter aus Magdeburg Besorgungen auf Besorgungen schickte, die immer alle so rasch als möglich erledigt sein sollten; es war auch wenig nach ihrem Herzen, daß Wilhelms Frau von Schneiderin und Putzmacherin erzählte, als seien das die wichtigsten Personen in ihrem Leben; es griff sie sicher oft an, wenn die Enkel um ihren Sessel tobten. Aber sie war immer voller Verstehen gewesen. Wilhelms Frau war eine schöne junge Frau, es war natürlich, daß sie Wert auf ihre Kleidung legte – und Hanna bekam in Berlin alles besser und auch billiger – und wenn die Enkelkinder sie auch heute müde gemacht hatten, sie konnte ja morgen ausruhen, es war doch eine Freude, daß die Kinder so gesund und lebhaft waren.
Der Mann senkte den Kopf: ja, seine Marianne, die war eine Frau wie sie sein soll: die kann sich selber verleugnen, die kann lächeln, wenn es ihr auch zum Weinen ist, die kann Interesse zeigen, Geduld, Teilnahme auch in der größten Ermattung – aber er, er als Mann? Nein, so alt war er denn doch noch nicht, daß ihn jeder persönliche Wunsch verlassen hätte, noch nicht so ohne allen Egoismus, daß er jedes Recht seines Ichs einfach aufgab, sich den Kindern anpaßte, als hätte er vor ihnen kein Leben geführt. Er wollte auch jetzt noch sein eigenes Leben haben.
Das war der Hauptgrund, weshalb Doktor Hirsekorn sich das Haus unter den Kiefern zum Wohnplatz aussuchte.
Seine Kinder waren durch diesen Entschluß unangenehm überrascht, die Tochter war fast beleidigt. Sie schrieb an Fräulein Zimmer: konnte die es denn nicht möglich machen und den Vater bewegen, diese unglückliche Idee aufzugeben, wenn er denn schon so wenig auf seine Kinder gab? Der Regierungsrat redete aufs ernsthafteste ab, er fühlte sich verpflichtet: der alte Mann so weit draußen und so ganz allein?!
Es schien ein gewisser Eigensinn, mit dem der Doktor auf seinem Willen bestand: »Ihr tut ja, als zöge ich in eine Einöde. Laßt mich nur!«
»Du wirst aber sehr allein sein. Man kann dich beim besten Willen dann nicht so häufig besuchen. Schon allein diese Reise bis zum Stettiner Bahnhof!«
Da lächelte der Vater; es war ein feiner Spott in seinem Lächeln und zugleich etwas wie Gram: »Wenn ihr mich brauchen werdet, werdet ihr mich auch da schon zu finden wissen. Im übrigen bin ich ja nicht allein.« Er sagte das so, daß keine Erwiderung mehr am Platze war.
Die Zimmer war sehr schlechter Laune. Beide Dienstmädchen, die noch von Frau Doktors Zeiten her im Hause waren, kündigten; zwar mit Tränen, denn es wurde ihnen wirklich schwer, die gute Stelle zu verlassen. Aber die Köchin hatte einen Bräutigam, mit dem sie alle Abend unten auf und ab spazierte, und das Hausmädchen amüsierte sich gern. Beides war da draußen ausgeschlossen. »Sehen Sie, Herr Doktor«, sagte die Hausdame fast weinend, »das ist nun schon das erste!«
Es kostete viel Geld, Herumlaufen und Zureden, zwei neue Mädchen zu finden. Wenn die Mietsfrau denen auch versicherte: »Sie denken sich det draußen viel schlimmer als det in Wirklichkeit is, feine Filla, jesunde Luft, Se kriejen da schöne rote Bakken« – die meisten Mädchen waren von auswärts zugezogen, und nun wollten sie erst einmal Berlin auskosten.
Fräulein Zimmer mußte sich mit einem siebzehnjährigen Hausmädchen, das noch nichts verstand, und mit einer Köchin, die nur ein Auge hatte – das andere war ein Glasauge – begnügen. Das würde ein schöner Zustand werden!
Aber ihre Klagen verhallten ungehört. Sie hörte auch bald auf zu klagen, denn der Doktor sagte ihr eines Mittags, als sie wieder jammerte, ganz ruhig und sah sie dabei, von seinem Teller aufblickend, voll an: »Liebes Fräulein, ich will niemanden zwingen. Wenn Sie denn durchaus nicht draußen sein mögen – !«
Doktor Hirsekorns Haus, Kieferngrund Nummer zwölf, kehrte seinen Giebel der Straße zu. Der war mit blauen Schiefern ausgekleidet, und das braunrote Ziegeldach darüber und der zartrötliche Verputz des Hauses und die grünen Fensterläden gaben dem Ganzen etwas Heiteres zwischen dem Dunkel der Kiefern, die mit ihren langen Stangen wie ernste Wächter standen. Ein niedliches Haus in einem großen Garten, das mußte selbst der Regierungsrat zugestehen. Aber dahinter war der Wald: hohes Gras, Wacholderstauden, und immer dies eintönige Kieferngrün. Und die mit kleinen Kastanienbäumchen eben angepflanzte Straße zeigte nur noch ein einziges bebautes und bewohntes Grundstück.
Nebenan in Nummer elf wohnte der Rentier Hippelt. Er war als erster herausgezogen; noch verlangte die Gartenstadt keine Gemeindeabgaben, keine Kommunal-, keine Wertzuwachs- und Umsatzsteuer. Das Haus war nicht groß, ein kräftiger Bursche, in eine Art Livree gesteckt, hielt es rein; außer ihm war kein Dienstbote da.
Frau Hippelt kochte selber; sie war das gewohnt, noch von der Zeit her, als sie dem Junggesellen die Wirtschaft geführt hatte. Kinder hatten sie nicht, und man sah nie jemanden zum Besuch kommen. Nur der Schlächter auf seinem Rad kam von Hermsdorf angesaust und läutete an der Glocke des hochummauerten Garteneingangs. Wütend fuhr da der große Hund, der tagsüber dicht bei der Treppenstufe der Haustür an der Kette lag, auf und bellte mit einem wilden heulenden Bellen. Der Diener ging dann hinaus zur Straße und nahm dem Schlächter das Fleisch ab; es wurde keiner hereingelassen. Für die Nachtstunden wurde die Dogge losgemacht. Bis zu seinem Fenster herauf hörte Doktor Hirsekorn ihr heiseres Schnaufen; sie schnupperte den Zaun entlang, der die Grundstücke trennte.
Fräulein Zimmer hatte sich bitter beklagt über das unheimliche Schnaufen und das ab und zu ganz kurz herausgestoßene grimmige Knurren; das nahm ihr die Nachtruhe. Aber war es denn ein Wunder, daß das Tier so böse war? Immer an der Kette, und dazu Hunger! Die Dienstmädchen erzählten, der Freßnapf wäre immer leer.
Hirsekorn ging eines Abends noch in den Garten hinab; das Bellen war heute schier unterträglich gewesen weniger böse, als verzweifelt: Hunger, Hunger. Er trug einen Teller mit Überresten und einen großen Kalbsknochen. »Komm – da – da!« sagte er und hielt dem heranschnaufenden Tier den Knochen über den Zaun. Die rote Zunge leckte aus dem dampfenden Rachen, der Geifer lief, der Hund schnappte gierig zu. Plötzlich ließ er winselnd ab.
»Sie füttern meinen Hund? Sehr freundlich, Herr Nachbar«, sagte Rentier Hippelt. Er war herangekommen, ohne daß der Doktor ihn bemerkt hatte. Nun stand er dicht am Zaun, in dem geflickten Schlafrock mit den roten Aufschlägen, in dem man ihn tagsüber auch immer sehen konnte; keiner der Flicken paßte zu dem Mausgrau des Rockes. Rasiert schien der Mann sich auch lange nicht zu haben. Der Doktor sah mit einer gewissen Verwunderung in das graubestoppelte magere Gesicht: wie ein reicher Mann sah der nicht aus. Er würde ja wohl nicht ganz so reich sein, kein zehnfacher Millionär, wie die Zimmer sagte, aber jedenfalls doch reich genug, um sich und seinen Hund anders zu halten.
Die Dogge hatte den Knochen fahren lassen, nun hob ihr Herr ihn selber auf: »So ’n schöner Knochen! Da, friß, mein Junge, wenn der Herr Nachbar denn so freundlich ist!« Und mit einem Lächeln, das verbindlich sein sollte, das sein Gesicht aber nur in viele Falten zog, streckte er dann die Hand über den Zaun und machte eine Art Verbeugung: »Hippelt. Bin sehr erfreut, Herr Doktor, Sie kennenzulernen. Na, wie gefällt’s Ihnen hier?«
Wollte der Mann die Nacht zum Tage machen? Der Doktor kam nicht los, der Nachbar verwickelte ihn in ein längeres Gespräch, als wenn er nur darauf gelauert hätte, sich einmal auszusprechen. Er erzählte, ganz vertraulich werdend und in einem kläglichen Ton, unter dem sich aber doch ein schlecht verhehlter Stolz barg, wie sehr er es jetzt bei den schlechten Zeiten bedauere, daß ihm fast die ganze Straße hier gehöre. Seine Backen plusterten sich auf: sämtliche Bauplätze. »Links von mir – eins bis elf – alles! Wenn Sie da gekauft hätten, anstatt rechts von mir bei der Terraingesellschaft, hätten Sie besser getan. Die Quadratrute haben Sie mit hundertundsiebzig Mark bezahlt – ich hätte Sie Ihnen mit hundertundfünfzig gegeben. Ich mache ja kein Geschäft daraus. Und die Lage links von mir ist besser, viel besser, näher zum Bahnhof. Und der Kiefernbestand ist schöner!«
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