Lange genug hatte sie hier in der Gegend gewohnt, die hatte keine Geheimnisse mehr für sie. Aber was dieser Mann sich eigentlich dachte! Sie war doch ein anständiges Mädchen! Sie beeilte sich immer mehr, sie mußte machen, daß sie nach Hause kam – ach, morgen früh ging’s wieder los, nähen, immer nähen, alle Tage nähen!
Ein plötzlicher Ekel hatte sie überkommen; ein Ekel an ihrer Arbeit, ein Ekel am Leben überhaupt.
Er hatte sie unablässig bedrängt. Er sollte sie in Ruhe lassen – sofort! Nein, nie würde sie sich in solch einen Eingang drängen lassen, niemals so eine Treppe hinauf, die leise knarrt, wenn man sie betritt, nie dann hinein in den winkligen Flur nach dem verschlossenen Eingang hin, wo beim Porzellanknopf der Schelle das Schildchen hängt: Hotelglocke.
Aber der Freche hatte sie weiter verfolgt bis an ihr Haus, sich mit hineingedrängt, als sie das Tor aufschloß. Hinter ihr her war er im Durchgang zum Hof, hatte sie im gähnenden Dunkel des Hintergebäudes umgefaßt, daß sie aufschrie aus gepreßter Brust. Er war erst zurückgeblieben, als die Mutter oben die Tür aufmachte und herunterleuchtete.
Ach, es war etwas Schreckliches, arm zu sein und dann in Berlin zu wohnen! Warum es so schrecklich war, darüber war Frida sich nicht klar, aber sie weinte heiße Tränen.
Herr Reschke kam spät, vielmehr früh nach Haus; es wurde ihm immer schwer, sich drüben loszureißen. Als er leise die Treppe hinaufschlich und dann versuchte, ganz unhörbar den Schlüssel ins Schloß seiner Küchentür zu stecken, wurde gerade drüben bei Riedels die Tür des Separateingangs zugedrückt. Sie schloß sich hinter der Gestalt einer Dame in Herrenbegleitung. War das nicht die älteste Riedel gewesen? Arthur lächelte befriedigt in sich hinein: die da drüben hatte doch richtig taxiert!
Mine schlief ganz fest, sie blies durch die Nase, daß es hauchte und fauchte. Der so spät Heimkommende durfte es sogar wagen, die Kerze anzuzünden: friedlich lag sie da, die Hände auf der Brust gefaltet. Er betrachtete sie mit einer gewissen Rührung: seine gute Alte, die merkte von gar nichts!
Aber Mine schlief nicht; sie ließ es sich nur nicht merken, daß sie wachte. Sonst hätte sie doch sagen müssen: »Aber Arthur, so spät, wie kannste bloß?!« Und das wollte sie nicht, denn dann wurde er verdrießlich und sie verdrießlich, ein Wort gab das andere – nein, nützen tat das Reden über das lange Ausbleiben doch nichts.
Sie hatte die ganze Zeit darüber nachgedacht, wie sie ihm wohl etwas verschaffen könnte, das ihm so viel Vergnügen machte, daß er Café Amor drüber vergaß. Und da fiel ihr auf einmal ein, was er heute aus der Zeitung vorgelesen hatte. Und sie sah ihn wieder am Küchenfenster stehen, den Arm ums Fensterkreuz geschlungen, den Oberkörper weit hinausgebeugt: »Ich glaube, ich seh ’nen Stern!«
Ach, was konnte man für Sterne zu sehen kriegen draußen auf freiem Feld! Da standen sie groß und leuchtend über der dunklen Erde; man sah sie blitzen und funkeln an den stillen Abenden, als wären sie neupoliert. Sonne, Mond und Sterne – die großen Lichter bei Tag und bei Nacht – wenn man sie immer hat, achtet man ihrer gar nicht mehr so; wenn man sie aber nie mehr sieht in ihrem vollen Glanz, nie ganz ungetrübt, dann freut man sich sehr darüber. Was waren alle Gaslampen, all das elektrische Licht hier in der Stadt dagegen?! Die waren von Menschenhänden angezündet. Aber Gottes Hände steckten die Sonne an, daß sie alles hell beschien und wachsen ließ: Gras und Klee, Roggen und Weizen, Rüben und Kartoffeln. Und den Mond ließ der liebe Gott aufgehen wie ein gutes, rundes Gesicht, das über den Acker guckte und aufs Dorf: ist auch alles hübsch in Ordnung? Und die Sterne sind die Augen von den vielen Engeln. Ach! Mine hatte aufgeseufzt, halb froh, halb zag – ein Gedanke zog wie erleuchtend durch ihren Kopf – wenn sie ihrem Arthur das schaffen könnte!
Aber wie nur, wie? Sie hatten doch nicht Geld genug, um sich draußen gleich ein Häuschen zu kaufen und ein Stück Acker dazu, und eine Kuh und ein Schwein – ach Gott, wenn es zu so viel langte?!
Sie überschlug in Gedanken, was sie sich erspart hatte die letzten acht Jahre. So lange die Kinder klein waren, hatte sie keinen Pfennig zurücklegen können, nun aber verdiente Fridchen doch schon seit ihrem sechzehnten Jahr, und Max, der jetzt bei den Soldaten war, hatte auch schon für Kost und Logis sein Teil beigetragen. Ob sie wohl schon die tausend Mark voll hatte, die sie sich gesetzt hatte als höchstes Ziel? Sie wußte es nicht; Frida hatte es nicht anders getan, sie hatte ihr eigenes und der Mutter erspartes Geld immer auf die Sparkasse getragen. Mine hätte es viel lieber selber verwahrt; da – da! Sie drehte im Dunkeln den Kopf nach der Seite, wo die Kommode an der Wand stand mit der weißen Häkeldecke und den Photographierähmchen darauf. Wenn sie es doch da hätte, ganz zu unterst unter ihrer Wäsche! Sehnsüchtig seufzte sie.
Aber sie konnte ja nachsehen im Sparkassenbuch; da stand es drin. Doch das war nicht dasselbe. Fühlen muß man’s, mit den Fingern halten, was man sich erarbeitet hat, dann weiß man erst, daß man’s wirklich hat.
Sollte sie aufstehen, Licht machen, nachsehen, was im Buche stand? Nein, Frida würde aufwachen darüber. Und Arthur könnte ihr auch drüber zukommen. Es war besser, sie ließ das Sparkassenbuch, wo es war. Sie bezähmte ihre Ungeduld, aber sie konnte nicht einschlafen.
Stunde um Stunde verstrich. Sie drückte die Augen zu, es war alles ganz dunkel um sie, und doch sah sie immer ein helles Feld. Und auf dem Feld stand ein Häuschen mit einem Fenster rechts von der Tür und einem links von der Tür, und hinter dem Häuschen war ein Gärtchen, da stand sie selber und pflanzte Kohl. Und Arthur stand in der Tür und guckte ihr zu und rauchte. Die Sonne blendete. O so hell, so hell! Tränen schossen ihr in die Augen. Sang nicht ein Vogel? Quakte nicht ein Frosch?
Und sie hörte ein immerwährendes Rauschen. Ha, das war der Sommerwind, der strich durchs reifende Korn! Sie lächelte im Finstern ganz entzückt: ja, ja, Sommer, Sonne, Wind und Korn. Und wie das duftete: nahrhaft und frisch!
In der Stube war es dumpf und schwül, sie merkte es nicht; all ihre Sinne waren wie benommen und ihre Gedanken auch. Wenn sie doch das Geld dazu hätte! Wenigstens ein Stückchen, ein winziges Stückchen von der großen Erde, auf das sie treten könnte und sprechen: »du bist mein!« Auf dem sie aussäen könnte und pflanzen, zu eigener Ernte. Sollte es denn wirklich nicht möglich sein, wirklich nicht?! Ihr Kopf war heiß.
Der Wunsch, dem Arthur nachgegangen war in einer plötzlichen Laune, wurde ihr zu einer himmlischen Eingebung. Die alternde Frau faltete die Hände wie ein junges Kind und betete zum Vater im Himmel, daß er doch so gut sein möchte und ihr helfen. Was würde das ein Segen für Arthur sein, dann ließ er das Wirtshausgehen, dann ging er nur noch auf sein Land. Dann wurde ihm Café Amor das, was es wirklich war: eine eklige, dunstige Stube, in der Leute zusammengepfercht saßen und qualmten und Karten spielten und tranken und Witze rissen und Weibsbilder pussierten und grölten und lachten; Leute, deren Seele doch so weit von Freude war, wie der fruchtbare Acker von der dürren Asphaltstraße ist.
Es kostete Mine eine große Überwindung, sich schlafend zu stellen, als Arthur kam. Sowie er sich aber niedergelegt hatte und sie ihn schnarchen hörte im tiefen Bierschlaf, stand sie auf. Es litt sie nicht länger. Sie tappte auf bloßen Füßen hin zur Kommode. Leise zog sie das Schubfach auf. Licht anzuzünden getraute sie sich nicht; aber sie fand auch das Buch im Dunkeln. Es lag hier unter dem Hemd, das Fridchen genäht als Meisterstück, als sie ausgelernt hatte. Die Mutter hob es auf wie ein Heiligtum: darein sollte man sie kleiden, wenn’s mit ihr zu Ende war.
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