Es war ein Spiel. Und der Zar glaubte, es würde von Dauer sein. Das Zarentum hat immer auf dem russischen Bauern geruht, ob nun mit oder ohne Uniform. Ein Fundament, ebenso beständig wie die Straßen im Frühjahr in einem sibirischen Dorf. Eine russische Nation hat es nie gegeben, nur eine slawische Ordnung, die zwischen Oberhaupt und Untertanen unterschied. Das Zarentum war das einzige strukturierende Prinzip dieses Volkes. Den Zar zu entfernen ist so, als würde man auf den russischen Steppen den Schnee schmelzen lassen. Dann gibt es keine Möglichkeit mehr voranzukommen, weder mit Wagen noch Schlitten, alles fährt sich fest, und andere Verbindungsmöglichkeiten gibt es nicht.
Die Propagandabilder von Vater und Sohn an der Front ließen zwangsläufig an die vielen Bilder von Zar Nikolaj und Nikolaj Nikolajewitsch aus den ersten Jahren des Krieges denken, als der alte Großfürst der oberste Kriegsherr war. Neben seinem zwei Meter großen Verwandten sah der Zar aus wie ein Kind. Erschreckend waren die unmittelbaren Eindrücke der Bilder. Sie enthielten eine Wahrheit. Die gesamte Autorität war in der Gestalt des weißbärtigen Hünen verkörpert. Er war ein absoluter Monarch, und in diesem Mann erhielt das System seine Glaubwürdigkeit. Nikolaj Alexandrowitsch war zwar gut gewachsen, doch offenbarte sich im Schatten des kolossalen Vetters seines Vaters seine richtige Dimension. Dass dies so deutlich sichtbar war, machte Alexandra Fjodorowna rasend und führte zu mehreren ernsten Ausbrüchen von Hysterie, danach zum Sturz des obersten Befehlshabers und zur Beförderung des »Kindes«.
Das Geschlecht der Romanows hat viele Hünen hervorgebracht. Ich habe selbst bemerkt (bevor meine Kilos schwanden), wie ein großer Körper Autorität verleiht. Entscheidend ist aber nicht die Größe des Körpers, sondern die Stärke des Willens. Der Wille zu herrschen muss aus Körperhaltung und Gesichtszügen des Autokraten sprechen. Nikolaj Alexandrowitsch ist schon beim ersten Blick entlarvt. Der Körper nimmt zwar die vorgeschriebene militärische Haltung ein, doch wirkt sie einstudiert, wie bei einem beliebigen Pagenkorps. Das Gesicht drückt keine Tatkraft aus. Ihn umgibt eine Aura von Ruhe. Die Augen sind von tiefblauer Schönheit. Er kann Sympathie und Liebe wecken, wie man sie für eine Frau oder ein Kind empfindet. Der Zar wirkte auf die Menschen alles andere als furchteinflößend. Das war das Erschreckende.
Der Zarewitsch steht im Begriff, das Herrschertemperament zu entwickeln. Das hat er von der Mutter, das und die Krankheit. Ihn prägt das Leiden, angefangen bei den unerträglichen Schmerzen, dem Verbot jeglicher Bewegung, der Isolation im Krankenbett, dem Gefühl, anders zu sein, bedeutend zu sein. Muss der Selbstherrscher eine ähnlich ungewöhnliche Kindheit und Jugend durchleben, um ein Weltbild zu formen, ein Selbstverständnis als Alleinherrscher? Kann er nur so zum Herrscher werden, entweder als Menschenfreund oder als Despot?
Die Antworten liegen in Alexandra Fjodorownas Psychologie verborgen, hinter den Augenlidern der Zarin, begraben im Herzen meiner Patientin. Ich habe ihr die Diagnose gestellt, ein vergrößertes Herz, ein gesprengtes Organ, das lähmend auf die übrigen Funktionen des Körpers wirkt. Überdies: Hysterie und Kopfschmerzen. Niemand kann sie länger gegen das abschirmen, was sie genötigt ist zu sehen.
Heute ist das Erbe seiner kaiserlichen Gewänder entkleidet. Die Nachkommen stehen wieder mit ihren körperlichen und psychischen Eigenheiten da, mit Krankheit und Gesundheit, Intelligenz und Schönheit. Als Erstgeborene wurde Olga Nikolajewna zur Trägerin der glänzenden Augen ihres Vaters, der unsterblichen Juwelen in dieser dynastischen Konkursmasse.
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