Herbert von Hoerner - Die Kutscherin des Zaren

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Zar Nikolaus I. unternimmt in einer stürmischen, verschneiten Winternacht wieder eine seiner überraschenden Schlittenreisen, diesmal nach Berlin. Unangemeldet ist er der kaiserliche Schrecken der Posthaltereien, in denen er das müde gerittene Gespann auswechseln lässt. Einen angetrunkenen Posthalter überfällt der Besuch des Zaren wie ein Unglück, denn er hat alle Pferde einem Händler ausgeliehen, um sich so einen Nebenverdienst dazuzuverdienen. Beim Baron Wok auf dem baltischen Gut Wieckeln fragt er nach, ob der Baron wohl mit dem eigenen Gespann aushelfen könne. Doch der zögert – diese rassig wilden Tiere könne nur sein Kutscher Krisch fahren, und der befindet sich mit der Frau Baronin noch in der Stadt. Wirklich nur sein Kutscher? Als die sechzehnjährige Baronesse Eva vom Anliegen des Zaren hört, beschließt sie, sich über alle väterlichen Anweisungen hinwegzusetzen. Unkenntlich vermummt verlässt sie das Haus mit den berühmten Apfelschimmeln, dem sogenannten «Viergestirn», und wird so, von allen für einen Mann und den regulären Kutscher Krisch gehalten, für einige hinreißend geschilderte Stunden zur Kutscherin des Zaren. Heiter, spannend und voll tiefer Menschlichkeit und Weisheit erzählt, ist Herbert von Hoerner mit dieser graziös und elegant geschriebenen Erzählung ein kleines Meisterwerk gelungen.-

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Herbert von Hoerner

Die Kutscherin des Zaren

Erzählung

Die Kutscherin des Zaren

© 1940 Herbert von Hoerner

Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen

All rights reserved

ISBN: 9788711593103

1. Ebook-Auflage, 2016

Format: EPUB 3.0

SAGA Egmont www.saga-books.com– a part of Egmont, www.egmont.com

I

„Woronoff!“

Der Adjutant knallt die Hacken zusammen.

Der Zar hält die Taschenuhr in der Hand und fährt mit dem Zeigefinger über das Zifferblatt. „In zwei Stunden“, sagt er. „Drei Schlitten. Proviant und so weiter. Sie wissen.“ Der Adjutant steht unschlüssig da. So viel hat er begriffen: In zwei Stunden sollen die Vorbereitungen für eine wahrscheinlich längere Reise getroffen sein. Aber um zu wissen, welches die richtigen Vorbereitungen sind, müßte man das Ziel der Reise kennen, und dieses ist ihm unbekannt. Daran, daß er nicht sofort „zu Befehl“ sagt, spürt Nikolaus die Frage.

„Ach so“, sagt er. „Ja, nach Berlin natürlich. – Worauf warten Sie noch?“

„Wen geruhen Majestät als Begleitung …?“

„Als Begleitung? Überleg ich mir noch. Im übrigen, ich wünsche nicht wieder so langsam zu reisen wie das letztemal.“

„Zu Befehl, Eure Kaiserliche Majestät.“

Sporen klirren, Wendung, ab! – Man hat’s nicht leicht, Adjutant zu sein beim Zaren Nikolaus, dem ersten seines Namens auf dem Thron von Rußland. Diese plötzlichen Befehle!

Winterpalais und Marstall leben in ständiger Alarmbereitschaft. ‚Wie die Feuerwehr‘, denkt der Adjutant, indem er sporenklirrenden Trabes eilt, die Stellen zu benachrichtigen, von denen aus der Befehl, weiter und weiter verzweigt und verästelt, hingelangen wird bis zu denjenigen, die ihn mit ihrer Hände Flinkheit auszuführen haben. Und derer sind viele.

Kaiserliche Oberkutscher, Kutscher, Stallknechte und Stalljungen purzeln übereinander. Flüche schallen, eine Ohrfeige klatscht, Pferdegeschirr klirrt und knarrt, Hofköche und Küchengehilfen, Kammerdiener und Leibgardisten rennen, teils planvoll, teils sinnlos, durcheinander. In einer Tür gibt’s einen Zusammenprall, ein fliegendes Tablett, Scherben auf dem Parkett und Flecken auf dem Teppich.

„Langsam!“ mahnt hinterher ein alter Diener, Veteran des napoleonischen Jahres zwölf . Er hat schon bei drei Kaisern gedient, und jeder hatte eine andere Art, sich zu ärgern. Paul tat es mit einem Stock, Alexander tadelte, Nikolaus schimpft. „Gossudar wird schimpfen“, sagt er, auf die Flecken deutend.

„Ich sage dir, langsam! Aber du hörst nicht.“

„Langsam!“ ahmt spöttelnd der Lakai, der die Scherben aufliest, die Sprechweise des Alten nach. „Darf denn bei unserem Väterchen irgend etwas langsam gehen? – Shiwo will er es haben. Das ist sein Lieblingswort. Weißt du, was Shiwo heißt, du Deutscher? Shiwo, das ist so“: – und er macht eine Gebärde, als säße er auf dem Kutschbock und schlüge auf die Pferde ein, daß sie im Galopp gehen, wobei er auch noch das Galoppieren der Pferde nachmacht.

„Ich weiß“, sagt der alte Diener. „Shiwo, das heißt auf deutsch lebhaft, flink.“

„Jawohl“, antwortet der andere. „Und bei unserem Nikolaus heißt das soviel wie: vom Fleck weg im Galopp!“

„Woronoff!“

Wahrhaftig, dieser Adjutant ist immer da, wenn man ihn braucht.

„Sind die Schlitten vor?“

„Sofort werden sie es sein, Eure Kaiserliche Majestät.“

„Ein deutsches Sofort oder ein russisches?“ scherzt der Zar.

„Ein russisches nach deutschem Muster“, erwidert lächelnd der Adjutant. Und da er spürt, daß die Antwort gefallen hat – ‚sie war auch wirklich vortrefflich!‘ lobt er sich selbst –, wagt er es, die Frage nach den Namen der zur Begleitung befohlenen Herren zu wiederholen. Der Zar nennt ihm die Namen. Drei trifft’s: einen Minister, einen Hofbeamten und …

‚Bloß nicht mich!‘ denkt der Adjutant. Gott sei Dank, es ist ein anderer. Der Adjutant weiß aus Erfahrung, daß es kein Vergnügen ist, mit Nikolaus zu reisen.

Der Zar geht, sich von der Zarin zu verabschieden. Der Gang fällt ihm nicht leicht, darum hat er ihn fast bis zum letzten Augenblick hinausgeschoben. Er ist ein liebender Gatte und weiß, daß sie, die unter diesen plötzlichen Abreisen und langen Trennungen leidet, ihm Vorwürfe machen wird. ‚Aber ich bin eben kein Privatmann‘, ermutigt er sich.

Er bemerkt, daß sie geweint hat. Ihn selber überkommt auf einmal ein weiches Gefühl des Abschiednehmens. Der eigenen Rührung Herr zu werden, gebraucht er pathetische Worte: „Du Tochter des Königs von Preußen“, sagt er, „du Tochter der großen Königin Luise, deren Andenken ich verehre.“

Aber sie geht auf den gezwungenen Ton nicht ein.

„Warum erfahre ich von dieser Reise erst in der letzten Stunde?“

„Weil ich sie selber erst in der vorletzten beschlossen habe“, rechtfertigt er sich.

„Nimm mich mit!“

„Unmöglich, meine Seele.“

„Du weißt, wie sehr ich mich gefreut hätte, Papa und die Brüder wiederzusehen.“

„Aber bedenke, die Winterkälte, die lange Fahrt, deine zarte Gesundheit!“

„Und deine Gesundheit?“

Da lacht er: „Ich bin im Dienst. Ein Soldat erkältet sich nicht.“

Sie nehmen zärtlichen Abschied.

„Sage Papa, ich küsse ihm in Gedanken die Hand.“

„Ich werde es in deinem Namen tun, mit meinen Lippen, so –.“ Er hat sich dabei ganz tief gebückt, der große Mann, und als er sich wieder aufrichtet und ihre Hand losläßt, macht sie ihm fromm und feierlich – so hat sie es bei ihrem Übertritt zur russischen Kirche gelernt – das Zeichen des Kreuzes über Stirn und Brust. Es ist ihr ein Trost, daß sie ein Zeichen weiß, das ihn vor allem Ungemach der Reise behüten wird. Er erwidert das Zeichen an ihr, denn auch der Daheimbleibende will behütet sein.

„Mit Gott die Reise!“

„Mit Gott das Dableiben!“

„Alles fertig!“ meldet der Adjutant.

Also haben sie es doch noch geschafft, die Befehlenden sowohl wie die Ausführenden: Ein paar Minuten vor der Zeit – denn so gehört es sich bei Hofe – stehen vor dem Hauptportal des Winterpalais drei Schlitten, jeder mit vier Pferden breit bespannt. Es sind herrliche Pferde, Rappen. Die Schlitten sind von der Art, die man „Wasok“ nennt, geschlossene Schlitten von geräumigem Innern, daß man in ihnen sich ausstrecken und nachts auch schlafen kann.

Im vordersten wird der Zar fahren in Gesellschaft des dazu ausersehenen Adjutanten. Die beiden andern sind für den Proviant, das Gepäck, zwei Diener und die übrigen zwei Herren des Gefolges, die kaum Zeit gehabt haben, Kamm und Zahnbürste mitzunehmen.

Mit Wohlgefallen betrachtet der Zar die schönen schwarzen Pferde. Schöne Pferde liebt er. Aber schnell müssen sie sein. – „Shiwo!“ –

Jahrtausendelang hat das Pferd dem Menschen seine Schnelligkeit geliehen. Auf dem Pferderücken oder hinter dem Pferdeschweif – so jagen die großen Herren und ihre starken Diener über die Erde hin und erobern sich ihre Weite. Von St. Petersburg bis Berlin – es ist ein weiter Weg. Aber für den Zaren von Rußland ist es nur eine kurze Strecke. Vier Pferde, breit gespannt – seit es Cäsaren und Siegesgöttinnen gibt, ist für sie die Quadriga das Gespann.

Einen Blick noch wirft der Zar zu einem der Fenster hinauf, hinter dessen von Eisblumen milchig gewordener Scheibe er das Antlitz der Zarin zu erkennen glaubt. Er winkt hinauf. Dann ist er eingestiegen, und ein Lakai hat die Tür des Wasok fest zugeworfen. – „Shiwo!“ –

In gestrecktem Galopp geht es den Newski-Prospekt hinunter. Das kaiserliche Gespann wird von weitem erkannt. Zu beiden Seiten der breiten Straße bleiben die Menschen stehen. Zivilisten grüßen, so gut eben Zivilisten das können. Alles, was Uniform trägt, rasselt „in Front“. Generäle erstarren, die Hand am Mützenrande.

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