Genauso hatte sie in ihrer nonnenhaften Schwesterntracht im Lazarett des Katharinapalasts dagesessen. Sie ging nicht von Bett zu Bett, von Soldat zu Soldat, sondern suchte sich immer einen aus, einen, der sie alle symbolisierte, am liebsten einen jungen Offizier mit verstümmeltem Leib und reinen Gesichtszügen. Hier, an diesem einen Bett, legte sie ihr ganzes Engagement an den Tag, all ihr Einfühlungsvermögen, ihr ganzes religiöses und mütterliches Gefühl. Es war keine menschliche Tat der Barmherzigkeit, sondern eine erhöhte Handlung, um den einen Leidenden zu erlösen.
Ihn, der sie alle repräsentierte.
Der Thronfolger war sehr krank, als die Zarenfamilie aus der Gouverneursresidenz in Tobolsk umquartiert werden sollte. Wir wurden Zeugen des ersten besorgniserregenden Ausbruchs der Hämophilie nach dem Sturz des Zarentums. Merkwürdig war nicht die Tatsache, dass die alte Krankheit in der neuen Zeit wieder aufgetaucht war (obwohl der Zarewitsch auffallend lange gesund gewesen war), ebenso wenig, dass es in ihrer ganzen furchteinflößenden Form geschah; erschreckend war, dass Alexej Nikolajewitsch die Krankheit herbeiwünschte , dass er sein Krankenlager selbst in Szene setzte.
Die Zarenkinder haben immer gern im Schnee gespielt. Nicht zuletzt der Thronfolger, denn das weiche Element steigert den Grad der Freiheit. Im Schnee kann er fast wie ein gewöhnlicher Junge herumtollen. Auf dem geräumigen Platz, der außerhalb der Gouverneursresidenz von Tobolsk eingezäunt war (und den ich von meinem Fenster im Kornilow-Haus aus direkt überblicken konnte) wurde ein richtiger Berg aus Schnee errichtet. Der Zar war der selbstverständliche Leiter der Arbeit an der topographischen Umformung des Geländes. Der Schneeberg wurde mehrere Wochen lang zum Mittelpunkt vieler Aktivitäten und Strapazen. Unter anderem als Rodelbahn für einen kleinen Holzschlitten.
Eines schönen Tages, immerhin schon am 4. März nach der neuen Zeit (und diese Entscheidung gehörte ausschließlich in die neue Zeit), hatte der Soldatenrat beschlossen, den weißen Berg zu entfernen. Nachdem der Zar dort oben gestanden und dem vierten Regiment zum Abschied zugewinkt hatte, dem Regiment, das die kaiserliche Familie seit der Abreise von Zarskoje treu bewacht und seine Gefangenen schätzen gelernt hatte, war das neue Wachpersonal auf die Idee gekommen, die Gefangenen könnten den Schneehaufen dazu gebrauchen, sich mit fremden Truppen in Verbindung zu setzen. In der Abenddämmerung kamen die Soldaten mit ihren Gerätschaften und machten den Berg dem Erdboden gleich.
Danach konnte der Rodelschlitten nur noch gezogen werden. Ich blieb eines Tages stehen und betrachtete Alexej Nikolajewitsch in seiner Marineuniform, wie er zusammengekrümmt auf dem kleinen Schlitten hockte, während Olga Nikolajewna in ihrem langen Rock vorneweg lief; aus der Ferne sah es aus, als wäre sie mit Zaumzeug angeschirrt, obwohl sie ihren Bruder sicher nur an einem Seil zog. Die Großfürstin lief im Kreis herum, der Zarewitsch ruderte mit den Armen, doch durch das Fenster konnte ich nicht hören, welche Kommandos er ihr zurief. Selbstverständlich war es nur ein Spiel, doch der Anblick gab mir dennoch einen Stich ins Herz.
Ganz allgemein ist es wichtig, dass Alexej Nikolajewitsch sich möglichst ruhig verhält, um der Krankheit nicht Vorschub zu leisten. (In diesem Winter hatte er ein paarmal Husten gehabt, was leicht Blutungen hätte auslösen können.) Dennoch hatte er den Schlitten unbemerkt ins Gouverneurshaus getragen und die Treppe hinaufgeschleppt. Hier saß er nun auf einem der Absätze zwischen dem ersten und dem zweiten Stock. Schon einen einzigen Meter würde ich bei einem Bluter normalerweise so einschätzen: als versuchten Selbstmord.
Vielleicht war die Schlittenfahrt die Treppenstufen hinunter genau das Gegenteil? Ein Auflehnen. Nicht gegen das Leben, sondern gegen den Tod, das heißt gegen die Langeweile, ein verzweifelter Versuch, das Leben in Bewegung zu setzen, ein Zeichen von Gesundheit, das mit Schmerzen endete und ihn ans Bett fesselte. Jeder hätte ihm das Ergebnis nennen können, und jeder X-Beliebige hat es ihm auch schon hundert Mal erzählt. Gleichwohl musste es geschehen. Oder: gerade deshalb musste es geschehen.
Der Wunderheiler Gregorij soll außerdem gesagt haben, dass Alexej Nikolajewitsch nach Vollendung des dreizehnten Lebensjahres geheilt sein werde. Diese magische Zahl hat er im letzten Sommer erreicht. Seitdem hatte er keine ernste Blutung mehr gehabt. Wollte er das Wunder auf die Probe stellen?
Ende März (nach alter Zeitrechnung), nur wenige Tage zuvor, war die erste Abteilung reiner Bolschewikensoldaten aus Omsk in das abgelegene Tobolsk gekommen. Ähnlich wie die Rivalen hier in Jekaterinburg hatten sich die Bolschewiken in Omsk mehrere Male bemüht, den Zaren und sein Gefolge unter Kontrolle zu bekommen. Man kann sich unschwer vorstellen, welch revolutionäres Prestige es mit sich brächte, das Leben des letzten Alleinherrschers in Händen zu halten. Jedoch war es die erklärte Absicht unseres damaligen und auch jetzt noch herbeigesehnten Kommandanten Koblinsky gewesen, seine Gefangenen gegen die Drohungen aus Omsk zu verteidigen. Es war davon die Rede, sämtliche Personen vom Gouverneurshaus in die Residenz des Erzbischofs Hermogen zu verlegen, die höher lag und die schwerer einzunehmen wäre. Aus diesem Anlass kam es zu einer Reihe von Konfrontationen mit dem Soldatenrat. Das einzige Resultat bestand darin, dass die Zarin bis auf weiteres mit einem Verbot belegt wurde, auf dem Balkon zu sitzen. Alexandra Fjodorowna war außerdem die Einzige, die den Einzug der Rotgardisten in Tobolsk mit einem gewissen Optimismus betrachtete. Sie war überzeugt davon, dass mehrere zarentreue Offiziere als gemeine Soldaten in das Heer der Roten eingeschmuggelt worden waren.
An diesen ersten, von bösen Vorahnungen erfüllten Frühlingstagen geschah es, dass der Zarewitsch an Bord seines kleinen Holzboots ging und es über die tödlichen Wirbel der Stromschnellen abwärts sausen ließ. Wollte er das Wunder auf die Probe stellen, wollte er sich durch ein Verschwinden retten, wollte er seine Familie von seinem Schicksal befreien? Wie oft erlebt das Kind, das immer im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden hat, seine Bedeutung? War es ein Opfer, ein Sprung von der irdischen Thronfolge auf den himmlischen Thron – ein Martyrium?
»Ich habe keine Angst vorm Sterben«, ertönte es ein paar Tage später vom Feldbett, »ich habe nur Angst vor dem, was sie finden werden, wenn sie den Berg abgetragen haben.«
Zusammen mit Dr. Derewenko konnte ich für den leidenden Knaben in Tobolsk ebenso wenig ausrichten wie bei dem Thronerben von Gottes Gnaden. Wir konnten nur darauf warten, dass der Blutdruck stieg, und Ruhe verordnen, die es nicht gab. Doch es bestand nicht mehr der Druck der Geheimhaltung. Die blauen Schwellungen brauchten nicht mehr wie Staatsgeheimnisse gehandhabt zu werden. Nur der Schmerz war zurückgekehrt, der Schmerz und die Machtlosigkeit.
Nach zwei Wochen mit schlaflosen Nächten, zu einem Zeitpunkt, als wir uns immer mehr von allen Seiten bedrängt fühlten, kam der Vertreter Moskaus, Kommandant Jakowlew, um die Zarenfamilie aus Tobolsk abzuholen. Er war ein hochgewachsener, höflicher und kultivierter Mann, gekleidet wie ein gewöhnlicher Matrose, doch mit den notwendigen Vollmachten ausgestattet. Die Herren in Moskau hatten allerdings nicht mit dem Schlitten des Thronfolgers gerechnet. Der Sendbote der Bolschewiken wurde als erster Außenstehender mit der Tragödie der Dynastie von Angesicht zu Angesicht konfrontiert: mit dem abgemagerten Leib des kranken Dreizehnjährigen in der gestreiften Bettwäsche des Feldbetts. Mit dem matten, kastanienbraunen Haar, den glänzenden Augen in dem schönen, wächsernen Haupt.
Er glaubte nicht, was er sah. Am selben Vormittag kam er wieder und öffnete unangemeldet die Tür zum Zimmer des Thronfolgers. Er wollte sich vergewissern, dass es sich nicht nur um eine Maskerade handelte, nur in Szene gesetzt, um die Revolution hinters Licht zu führen.
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