Ich begrüßte die Anwesenden und begann mit geringer Hoffnung auf baldigen Fortschritt zu versuchen, im Hause meine Stellung als Schwager des inzwischen erwachsenen Kindes zu erkunden, dem Tante Mommy vor längst vergangenen Zeiten gegen Bezahlung einmal einen Klaps auf den Hintern verpaßt hatte. Es gestaltete sich jedoch überraschend einfach, und aus all dem Fett heraus wurde ich von zwei braunen, scharfen Augen – den Augen des Vaters – betrachtet. Wie zwei Rosinen in einer Hefewecke, konnte ich gerade noch denken, ehe seine Frau sich daran machte, uns zur Prozession aufzustellen.
»Aber wo bleibt denn Therese Carlsson?« flüsterte der General, gewohnt, nicht durch unnötige Lautstärke oder Säbelgerassel vorzeitig die Lage der Truppe im Feld zu verraten. In dem Augenblick hörte man, wie die hochgewachsene Schriftstellerin die Treppe hinuntertrampelte, einem verspäteten Infanterie-Regiment auf dem Weg zum Appellplatz nicht ganz unähnlich. Sie wurde von gezischten Vorwürfen und leisen Verwünschungen empfangen, ins Glied gestellt, ganz nach hinten wie ein Anker, und so zogen wir aus der Küche, durch den Flur und das Wohnzimmer ins Eßzimmer, wo wir vor der großen, dunklen Tür Aufstellung nahmen.
Mir war es schon in der Küche aufgefallen und hier war es noch deutlicher spürbar.
Etwas war nicht so, wie es sein sollte, etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Ich erinnerte mich im Lauf der Jahre an so viele morgendliche Aufwartungen, und alle waren begleitet von Gekicher, Scherzen und Vorfreude. Hier fehlte dergleichen, bloß erdrückendes Schweigen und eine Anspannung von Grund auf, die nicht die richtige war.
Lag es an mir, dem Fremdling im Hause, und dem Umfeld, die Mißstimmung aufkommen ließen, dachte ich, oder beruhte alles vielleicht darauf, daß wir alt waren oder keine Kinder dabeihatten? Alter auf dem Weg zu einem finsteren Stelldichein mit dem Greisentum?
Doch etwas anderes und Schlimmeres war die Ursache ...
Die Tür wurde mit einem leichten Knarren geöffnet.
Die Dunkelheit.
Das Lied.
Der Schrei.
»Zieh doch jemand die Vorhänge zurück! Macht Licht hier drinnen!«
Sogar der Apotheker war offensichtlich durcheinander, seine Hände waren von einem gewaltigen Tablett gebunden. General Ygdecrantz machte ein paar verzagte Schritte, Mommy aber war schon am Fenster schräg hinter dem Kopfende des Bettes.
Der alte Mann lag auf dem Rücken. Die Decke reichte nur knapp über die Brust, und die Falten des Nachthemdes waren vollkommen regungslos. Die durchscheinend weißen Hände ruhten auf dem Überschlaglaken, nicht gefaltet, jedoch einander zugewandt, als seien sie nahe daran gewesen, sich zu vereinigen. Der Kopf war zur Seite gefallen, und die Augen waren geschlossen. Doch der Mund stand offen, wie erstarrt zu einem Schrei oder geweitet im letzten, krampfhaften Versuch des Körpers, Sauerstoff zu atmen ...
Und dann sah ich, daß er sich übergeben haben mußte. Es hing um den Mund, am Kinn etwas Zähflüssiges, Mehlartiges, Blutvermischtes.
Auf dem Nachttisch standen ein Glas Wasser und ein kleines Arzneigläschen. Dort lag ebenfalls ein Buch, doch da dessen Umschlag fehlte und sein Rücken mir nicht zugewandt war, konnte ich den Titel nicht erkennen.
»Ist er ... ist er tot?« stieß Frau Lindberg hervor, unerwartet, gellend, und ich dachte, sie mußte es gewesen sein, die eben im Halbdunkel geschrien hatte.
Der Apotheker, der sein Tablett auf dem Fußboden zur Notlandung gebracht hatte, saß auf der Bettkante, und seine Hände tasteten über den dünnen Körper. Die riesige Hand blieb schließlich auf dem Hals des Greises liegen. Ein Druck bloß und er zerbricht die Halswirbel wie ein Streichholz, schoß es mir durch den Kopf.
»Ja, jetzt ist er für immer tot.« Der Apotheker erhob sich langsam. »Und er ist es schon eine ganze Weile. Aber wir müssen einen Arzt bestellen. Ejnar, kannst du einen anrufen ...?«
Die in all dem Fett versunkenen Äuglein blitzten zwar auf, er aber rührte sich nicht, antwortete nicht. Er sah unverwandt auf die kleine, dünne Gestalt in dem Bett, die – widersinnig, nahezu grotesk – der Ursprung seines irdischen Lebens war.
Doch dann entfernte sich Mommy mit wenigen, schnellen Schritten vom Fenster und sank neben dem Bett auf die Knie. Sie strich über die Hand ihres alten Bruders, unaufhörlich, wie um ihm die Wärme des Lebens wiederzugeben, und sie weinte still, untröstlich. »Liebster kleiner Adolf«, hörte ich sie flüstern, »liebster kleiner Adolf«. Ihr Kopf ruhte an seinem Arm.
Als sie sich endlich erhob, schwankte sie leicht, schob jedoch die stützende Hand fort, die ihr der Neffe angeboten hatte. Sie drehte sich zu ihm um, und ich sah ihr direkt ins Gesicht. Die Tränen waren nicht fort und auch nicht der Schmerz und der Verlust, die sich dahinter verbargen.
Aber jetzt lag auch Wut darin, Zorn und – für eine flüchtige, böse Sekunde – Haß.
Dann stolperte sie aus der Tür.
Doch sie sollte das Zimmer nicht allein verlassen.
Ihr hinterher lief ein junges Mädchen. Sie mußte hinter uns gestanden haben, vielleicht versteckt zwischen den dunklen Schränken, und jetzt schoß sie hervor wie ein aufgescheuchtes Tier.
Sie hatte einen Pferdeschwanz, trug Jeans, und in der Hand hielt sie einen kleinen Strauß weißer Blumen.
Und wenn ich recht gesehen hatte, dann weinte auch sie.
Doktor Tomander, ein sympathischer, grauhaariger Mann, traf nur wenige Minuten später unter liebenswürdigem Räuspern ein, untersuchte seinen Patienten ein letztes Mal und verschwand unter zunehmend nervöserem Räuspern, nachdem er konstatiert hatte, daß es sich hier vermutlich um einen Fall für die Polizei handelte.
»Ist im Verlauf der vergangenen Nacht gestorben, möchte ich vermuten. Seltsam, sehr seltsam, ich habe immer geglaubt, er würde neunzig werden. Sonst immer gesund wie ein Fisch, ährrm, im Wasser. Habe ihn dreißig Jahre lang als Patienten gehabt, habe ihn erst letzten Donnerstag gründlich untersucht. Kern-, ährrm, gesund. Leichter, zarter Körperbau, wunderbarer Blutdruck, prima Herz. Das Arzneiglas? Ja, seit vielen Jahren hat er die Angewohnheit, zur Nacht zwei Kapseln Schlafmittel zu nehmen. Ganz, ährrm, ungefährliche Angewohnheit in seinem Alter. Gewohnheitsmensch von Natur aus. Die Todesursache, ährrm?«
Doktor Tomander hatte sich vorgebeugt und schnupperte oberhalb des verfärbten, fleckigen Halsbündchens.
»Zwiebel, ährrm, es riecht nach Zwiebel ... Hat er gestern Hackbraten oder etwas anderes mit Zwiebel gegessen? Nein, ährrm? Und das hier ist Blut? Nein, er ist bestimmt im Schlaf gestorben, an Erbrochenem erstickt, ganz sicher. Möglich, daß ihm etwas, ährrm, Unbekömmliches verabreicht wurde, etwas, ährrm, sehr Unbekömmliches. Möchte fast Arsen vermuten ...«
Dann hielten Kommissar Svensson und alle seine Mitarbeiter Einzug ins Haus.
Ich selbst hatte mich hinauf aufs Zimmer verzogen, doch der Staatsminister blieb noch unten. Nach einer Stunde kam er indessen hereingestürmt und setzte vor Aufregung glühend zu einem verworrenen Vortrag an.
»Der Gerichtsmediziner sagt auch, es kann eine Arsenvergiftung sein! Aber um sicher zu gehen, müssen sie natürlich die Leiche obduzieren. Sie schneiden ihn auf und untersuchen den Inhalt von Magen und Darm und ...«
Ich hatte ihn mit einer matten Handbewegung um Mäßigung gebeten.
»Sollte es sich tatsächlich um Arsen handeln, dann muß er es gestern abend sehr spät zu sich genommen haben oder vor Mitternacht, und es kann ein Unfall oder Selbstmord oder Mord sein«, fuhr der Staatsminister begeistert fort. »Ich hoffe ... glaube, es ist Mord! Wie sollte es ein Unfall sein? Es gibt keine Spur von Arsen oder eines anderen Giftes im Zimmer des alten Knaben oder in seiner Toilette, das halten wir für bereits erwiesen. Wir arbeiten ... ja, als Justizminister bin ich doch der Polizeichef, das meiste ist Papierkram und Organisation und so etwas Langweiliges, du weißt schon, da ist Feldforschung einmal ganz angen ... nützlich. Ich habe übrigens einige Beobachtungen gemacht, die ihrer Meinung nach sehr bemerkenswert sind, haben sie gesagt.«
Читать дальше