So ist das hier. So steht es mit Omsky, der den grossen Krieg mitgemacht und sich stets zu helfen wusste.
Er hört hinter sich ihre Atemzüge.
Sie schläft, denkt er. Warum kann ihm das in irgendeiner Weise eine Enttäuschung sein?
Er beginnt, sich allerlei Fragen vorzulegen. Zum Beispiel möchte er gerne wissen, warum das Leben gerade ihn zu einem besonderen Ballspiel ausersehen hat.
Es war ein Augenblick in seinem Leben, der alles umstürzte und in Unordnung brachte. Das war in einer Strasse, als man ihm das goldene Portepee abriss und in den Schmutz stampfte. Er hatte es mit seinem Blute geheiligt. Das war der Anfang des Elends. Das hat sein Leben zerbrochen.
Aber dieses blonde Mädchen, das da in der Dunkelheit hinter ihm sitzt, das nimmt ihm nun auch noch das letzte, den kleinen Hochmut, hinter dem er sich verbergen möchte.
In müder Ironie denkt er an die frohen Abenteuer seiner Jugend. Und er denkt mit Hohn und doch zugleich mit einer Art Verzweiflung, dass die Zeit ihn stets im Stiche lasse.
Aus der Dunkelheit fragt es: „Schlafen Sie?“
„Nein.“
Und dann: „So sagen Sie endlich etwas. Man kann doch nicht so sitzen und schweigen.“
Ihm wird nun befohlen zu reden. Aber er schweigt.
„Man sagt, Sie seien Offizier gewesen — stimmt das?“
„Bitte, das gehört nicht mehr zu mir.“
Ihr Lachen erfüllt den kleinen Raum wie weiches Flötenspiel. Wenn er in diesem Augenblicke sein Gesicht hätte sehen können, wäre er sicherlich verwundert gewesen. Aber es ist kein Spiegel da und überdies rabenschwarze Finsternis.
„Was gehört eigentlich von Ihnen noch hieher?“
Versteht sie denn wirklich nicht, dass sie ihn mit dieser unangenehmen Frage kränken muss? Wie kann man so taktlos sein?
Nein, sie merkt nichts von allem. Und taktlos ist sie, ganz ohne Grenzen.
„Warum antworten Sie denn nicht?“
„Ich überlege mir Ihre Frage.“
„Ah!“
Das war ohne Zweifel ein Aufruf der Befriedigung. Und das verblüfft ihn, denn er hat erwartet, dass sie ihn nun wieder ihre Überlegenheit fühlen lässt.
Früher glaubte er die Frauen zu kennen — die Weiber — haha. Aber nun kommt er sich doch ordentlich verblödet vor. So steht es also um unsere Wissenschaft, mein Freund. Mit dreiundzwanzig bildet man sich ein, diese Wesen bis auf den hintersten Grund zu durchschauen, so wie man einen Schrank überblickt. Mit zweiunddreissig entdeckt man plötzlich rätselhafte Anzeichen und merkt alsgemach, dass das hübsche Schränklein mehrere Geheimfächer hat, die nicht ohne besonderen Schlüssel zu öffnen sind.
Er hört das scharfe Klappen ihres Täschchens. Papier raschelt.
„Mögen Sie Schokolade?“ fragt sie in ungewohnter Freundlichkeit. „Etwas anderes ist nicht da.“
„Für mich hat das nichts zu bedeuten. Ich bin auch gar nicht hungrig ...“
„Da! — Wo stecken Sie denn?“
Er streckt seine Hand vorsichtig in die Dunkelheit. Ist denn das ein Möbelwagen? Überall ist nur leerer Raum.
Plötzlich fühlt er etwas an seiner Wange. Er riecht mit dem Kakaoduft das Leder ihres Handschuhs.
„Verzeihung.“
„Wieso denn? Machen Sie einmal den Mund auf.“
Jetzt hat er das Stücklein Schokolade im Munde und auf der Zunge einen verdammt bitteren Geschmack.
Ach so — denkt er — zur Abwechslung spielt sie jetzt mit mir eine andere Rolle. Ich soll wohl nun zu einer Dummheit verlockt werden. Zuerst Zucker und dann die Ohrfeige. —
Er meint, dass ihm zu diesem Spiel jegliche Begabung fehle. Und überdies will er nicht.
„Ich bin ganz sicher,“ erklärt sie, und man hört es zwischen ihren Zähnen knacken, „ich bin ganz sicher, dass jetzt meine Mutter im Haus herumstürmt und in Angst um mich transpiriert.“
Er bestätigt: „Ihre Frau Mutter wird gewiss sehr unruhig werden.“
„Wie stellen Sie sich das nun vor — was kann man wohl unternehmen, uns zu suchen? Man hat natürlich zu Hause keine Ahnung, wohin ich gefahren bin.“
„In diesem Falle dürfte die Nachforschung recht schwierig werden, und es ist wenig Aussicht, dass man uns in der Nacht noch auffinden wird.“
„Das ist auch meine Meinung.“
Es scheint ihr sogar Spass zu machen, eine Nacht zu verschwinden.
„Wir sind bis morgen früh sozusagen allein auf der Welt. Später wird man darüber lachen — und es war ein hübsches Abenteuer.“
Omsky meint, dass einige Menschen ganz unverdientes Glück haben und viele ohne Grund vom Leben schlecht behandelt werden. Aber das ist nun auch wahr, dass für die nächsten Stunden dieses eigenwillige und trotz allem feine Mädchen dem unglücklichen Omsky näher sein wird als irgendeinem andern. Doch diese Betrachtungen führen auf Abwege.
„Wenn man nun zu Hause nicht wüsste, wie hochmütig ich bin“, sagt sie, „und was für ein gediegener junger Mann Sie sind, könnte man sogar auf den Gedanken kommen, Sie hätten mich entführt. Nicht wahr?“
Er meint, dass sei ein ziemlich billiger Witz. Diese junge Dame scheint ja allerhand Hintergründe zu haben.
Und die junge Dame? Ach, sie plappert nur drauflos und achtet nicht mehr sonderlich auf die Worte. Jawohl, ihre Gesprächigkeit und ihre gute Laune, das wird alsgemach verdächtig. Kommt das wohl daher, weil in ihrem Blut tausend Frühlingslieder singen?
Gewiss ist, dass eine Kraft sie treibt, eine Kraft, so urgewaltig und unbändig, wie die braunen Märzenwasser, die draussen über alle Hügel strömen.
Pause. Aber das ist keine Stille, die die Welt in Frieden hüllt. Nein, in diesem Wagen, der da einsam und lichtlos im finsteren Walde steht, brüten zwei Gewitter.
„Und morgen wollen Sie uns also verlassen?“
„Ja.“
„Haben Sie schon eine andere Stelle? Es soll doch schwer sein in diesen Zeiten.“
„Fürs erste werde ich zu einem Onkel aufs Land gehen.“
„Haben Sie denn noch Verwandte?“
„Ganz weitläufige.“
Nun ärgert er sich schon wieder. Was kümmert es sie, ob er Verwandte hat? Wozu nun diese Anteilnahme? Soll er vielleicht auch dafür sich erkenntlich zeigen?
Er kann dieser Unterhaltung nicht länger Geschmack abgewinnen.
„Sind Sie immer so schweigsam gewesen?“ fragt sie in unermüdlicher Bosheit weiter.
„Früher war alles anders,“ gesteht er mit einem Male treuherzig.
Und er sagt noch, obschon er sich im gleichen Augenblick über seine plumpe Offenheit greulich ärgert: „Das Unglück verblödet den Menschen.“
Nun gibt es eine lange Pause.
Man hört den Schnee an den Wagenfenstern knistern. Der Schnee streicht ganz sachte und weich über das Glas. Es ist der einzige Laut, der die Nacht erfüllt, der die Welt erfüllt.
„Ich will Ihnen jetzt etwas sagen.“
Er beugt sich gegen sie hin und lauscht, nicht nur mit seinen Ohren, denn in ihrer Stimme ist ein eigenes Schwingen. Seine ganze Seele steht in Erwartung.
„Ich bin zwar nur ein junges Mädchen und verstehe nicht viel vom Leben. Aber mir scheint, das grösste Unheil, das einen Menschen treffen kann, ist, wenn er sich selber wegwirft.“
Da er stumm bleibt, fügt sie noch hinzu: „Wenn man ein Stallknecht ist und sich damit zufrieden gibt, ein Stallknecht zu sein, wird man es immer bleiben.“
Wie lässt sich nun das wieder mit ihrem kecken Gerede von vorhin zusammenreimen? Will sie ihm wohl gute Lehren mitgeben auf die Reise? Dann verschwendet sie allerdings ihre Teilnahme an einen Unwürdigen.
Sie lässt ihm aber gar nicht Zeit, sich gründlich zu verdriessen. Nein, dieses temperamentvolle Fräulein hat schon wieder einen neuen Gesprächsstoff gefunden und lässt sich durch sein Schweigen durchaus nicht einschüchtern.
„Es wird hier allmählich kalt,“ sagt sie.
Sogleich steigert sie noch ihre Behauptung: „Ich beginne zu frieren.“
Читать дальше