Seine ruhigen, ernsten Augen bekommen einen amüsierten Ausdruck, wenn er wohlwollend-kritisch die Damen in der Abendtoilette und die Herren im Smoking mustert, wie sie um ihn herum speisen und den relativ preiswerten Champagner fließen lassen.
»Gibt es den typischen Kreuzfahrer, Kapitän Raasch? Wer kann sich den Luxusliner leisten, für mehr als 500 Mark pro Tag, und wie sieht der Repeater aus, der immer wieder kommt?«
»Der Repeater ist meistens eine Dame, und wir schätzen natürlich unsere Stammkundschaft besonders, zeichnen sie aus, mit einer silbernen Nadel für 75 Tage an Bord, einer goldenen für 150 Tage. Es kommen auch Gruppen, Leserreisen, Clubs, für die gibt der Kapitän einen Sondercocktail. Im übrigen sind es durchaus nicht nur die sogenannten Kapitalisten, von denen wir leben, die reichen Unternehmersgattinen oder was man ›die oberen Aussteiger‹ nennt. Nein, wir haben pensionierte Beamte, erfolgreiche Handwerksmeister, Zahnärzte, Architekten – ein erstaunlich buntes Spektrum.«
Durchschnittsalter? »Das liegt schon gut über den 50, 60.« Durchschnittsgewicht? »Gehört nicht zum Zuständigkeitsbereich des Kapitäns. Dafür ist der überhaupt wichtigste Mann an Bord verantwortlich, Chefkoch Detlef Löwenberg.«
Und der bietet jeden Tag fünfmal an, was der dicke Bauch der »Europa« hergibt. Es kann ein jeder auswählen aus dem überreichen Angebot, was für ihn bekömmlich ist – nur, die meisten sind gerade auf Kreuzfahrt kein bißchen weise.
Wie viele Passagiere braucht die »MS Europa«, um rentabel zu sein, um nicht das beklagenswerte Schicksal der auch sehr schönen »Astor« zu erleiden?
»Die Reederei rechnet mit einer Untergrenze von 70 Prozent Auslastung. Alles was darüber ist, bringt schwarze Zahlen. Unsere ›Europa‹ liegt mit über 85 Prozent Durchschnittsbuchungen an der Spitze und fährt deutlich Gewinn ein. Das macht natürlich auch dem Kapitän Spaß.«
»Und wieviel Spaß macht das Kreuzfahren dem Kreuzfahrer? Bei den Landgängen hat er doch nie mehr als den Blick durchs Schlüsselloch. Vieles mißversteht er. Und umgekehrt wird auch er von den verschiedenen ›Eingeborenen‹ mißverstanden. Wenn er von seinem weißen Traumschiff steigt, muß er den Afrikanern, den Südamerikanern, Asiaten vorkommen wie ein Wesen vom anderen Stern.«
»Sie sprechen das komplizierte Problem des heutigen Massentourismus an, Herr Koch. Es stimmt, man kann die Welt nicht durchs Schlüsselloch wirklich kennenlernen. Es stimmt auch, daß einige Passagiere vorgestern in Dakar Aggressionen erlebt haben. In der Dritten Welt wachsen die Spannungen. Aber bringt der Tourismus diesen Ländern denn nicht eine Menge dringend benötigter Devisen?«
»Manche leben davon.«
»Drum müssen wir kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir sie besuchen. Es ist mein Job, Touristen zu befördern, so angenehm wie möglich. Tourismus ist eine der wenigen Wachstumsbranchen der achtziger Jahre. Und der Anteil der Kreuzfahrten wächst.«
Hat der »Europa«-Kapitän, der alle Weltmeere befuhr, und ungezählte Häfen kennt, der ein Menschenführer erster Ordnung sein muß, vor irgendetwas Angst?
»Ja, daß ich einmal zu spät an Bord zurückkommen könnte.«
»Ihr Stellvertreter, der Leitende Offizier, wird wohl kaum ohne seinen Kapitän abdampfen.«
»Das würde ich ihm auch nicht raten. Aber wäre ich dann noch ein Vorbild?«
DIE SPHINX VOM BODENSEE
Es empfängt mich der Autor des »Kochbuchs
für Füchse«, Professor Dr. Heinz Maier-Leibnitz,
Atomphysiker, ehemals Präsident der Deutschen
Forschungsgemeinschaft, Kanzler des Ordens
Pour le Mérite, Friedensklasse.
Deutschlands prominentester »Gastrosoph« hat für
seine Frau und mich gekocht – in der kleinen Küche
des bescheidenen Häuschens am Bodensee, das
Deutschlands renommierteste Meinungsforscherin
schon seit 1947 bewohnt.
Frau Noelle-Neumanns rasante Mobilität ist ebenso berühmt wie gefürchtet. Vormittags konferierte sie noch in Mainz mit Ministerpräsident Vogel, nun erwarten wir sie beim Sherry in der winzigen, aber mit bibliophilen Schätzen vollgestopften Bibliothek.
Das erste, was wir von ihr sehen, ist ihr Fahrer. Er schleppt Taschen und Koffer, schließlich Akten, Papiere und Bücher herein. Dann steht sie selbst in der Tür, vergnügt und energisch wie eh und je, die lebhaften großen braunen Augen haben sofort alles erfaßt und durchdrungen: »Zweieinviertel Stunden Fahrt, kein schlechter Durchschnitt«, sagt sie.
Was hält sie vom Tempolimit 100?
»Wir werden immer das Äußerste herausholen.«
Schon ist sie wieder weg. Treppe hoch, umziehen, nach knapp zehn Minuten nimmt sie huldreich den Toast mit gebratener Hühnerleber aus der Hand des Gatten entgegen. »Danke, Lieber«, das Telefon klingelt. Sucht der Bundeskanzler ihren Rat am Freitag nachmittag?
Der Professor und Liebhaberkoch, geboren 1911 in Eßlingen, bittet liebenswürdig zu Tisch, er muß in einer Stunde zum Flughafen Zürich, da er heute abend in Oxford eine Herrenrunde hat, allesamt Hobbycooks und Wissenschaftler.
Die Fenster des Eßzimmers bieten Ausblick auf einen Frühsommertag über der idyllischen Reichenau. Schon weht sie wieder herein, die »Sphinx vom Bodensee«, aber weder sie noch ihr Ambiente hier zeigen irgendeine Spur von Mythos oder Mystik. »Ich bin Statistiker, bitte setzen wir uns doch.«
Kennt sie Robert Musils hintergründige Bemerkung im »Mann ohne Eigenschaften« – »Die Statistik ist das Schicksal«?
»Damit meint er vielleicht dies: Individualität geht im statistischen Mittel unter, persönliche Meinung in der öffentlichen.«
In ihren Umfragen finden wir uns plötzlich alle in bestimmten Gruppen wieder, in statistischen Trends. Und die können zum Schicksal werden. Sie hört so intensiv zu, daß sie zu atmen vergißt.
Sie bringt das Kunststück fertig, immer in Bewegung zu sein und nie unruhig zu wirken. Weißen Wein oder roten? Sie greift vom Fensterbrett den 82er Wertersheimer Karlsberg Kabinett für sich und für mich. »Und du, Lieber? Roten?« Ihre Fürsorglichkeit ist allgegenwärtig, auch wenn jetzt ein anderes Telefon schnarrt. Sie ist schon dran, die Suppe aus passiertem Kopfsalat muß einen Augenblick warten. Er sagt: »Ich habe Helmut Schmidt zum 60. Geburtstag meine Suppenrezepte geschenkt.«
»Hat er deshalb neuerdings so zugelegt?« Ein diskretes Lächeln.
Sie ist wieder zurück. »Drüben im Institut haben sie mitgekriegt, daß ich da bin. Jetzt ist Schluß mit dem Telefonieren, gehe nachher sowieso ’rüber.« Aber hat sie nicht selbst erfragt, daß die alten Tugenden kein Thema mehr sind in unserer Bundesrepublik? Fleiß zum Beispiel?
»Gilt nicht für Allensbach, Freitag nachmittag ist die Mannschaft an Bord.«
»Wie viele?«
»Neunzig, abzüglich der Urlauber und der Leute im Außendienst und derjenigen, die wir zur University of Chicago schicken oder mit Chicago austauschen.«
Hat sie tatsächlich Deutschlands kleines aber feines Demoskopie-Institut nach Chicago verschenkt?
»Ja – und mit Freuden. Das Max-Planck-Institut wollte es nicht haben, also . . . Chicago ist tonangebend in den social Sciences. 1500 Professoren kommen da auf10 000 Studenten, es ist eine Forschungs-Uni. Wir haben einen fabelhaften Vertrag geschlossen. Allensbach wird so erhalten wie es ist, das auf der Welt einzigartige Archiv mit Jahrzehnten von langfristigen Umfrageprogrammen bleibt unangetastet, wird weitergeführt.«
Stolz auf ein Lebenswerk? »Gleichsam, ja . . .« Diese beiden Worte sind charakteristisch für sie. Sie erforscht mit Vorliebe soziale Spannungsfelder, ihr »gleichsam« schlägt Brücken. Ja? Ihre Fragen – und sie formuliert auch ihre härtesten Feststellungen lieber in Frageform – schließt sie mit diesem suggestiven »Ja?« ab, ihre Art von »nicht wahr«. Aber Chicago noch aus einem anderen Grund. »Grundlagenforschung muß in unserem Fach international sein. Uns interessieren die anthropologischen Konstanten – wie und was ist der Mensch überhaupt? Und dann darin die kulturspezifischen Varianten – wie und was ist der Amerikaner, der Deutsche. Allensbach – Chicago, ja?«
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