Das Stimmengewirr zwischen den übermäßig dekorierten Wohnzimmerwänden legte sich nicht, wurde jedoch von der artfremden Einmischung gestört, die Jockes Gestalt hier nun einmal darstellte. Er stand in der Tür und gab Regina zu verstehen, daß er ausgehen wolle.
»Du weißt, wann du zu Hause zu sein hast«, sagte Regina gereizt, und ich sah, wie er den Kopf einzog, ehe er durch die Wohnungstür schlüpfte. Fang ihn dir, rief eine Stimme in mir. Mir wurde fast schlecht bei dem Gedanken, auch nur noch eine einzige weitere Sekunde in dieser plappernden Gesellschaft verbringen zu müssen, weshalb ich ohne nachzudenken aufsprang und davonstürzte. Der Fahrstuhl war bereits mit seiner kostbaren Last auf dem Weg nach unten, und ich mußte mich zusammenreißen, um nicht im wahrsten Sinne des Wortes die Treppe hinunterzustürzen. Ich hätte doch keine Entschuldigung vorbringen können, wenn ich einfach über ihn hergefallen wäre.
Als ich die Straße erreichte, war er spurlos verschwunden, und ich schlenderte unentschlossen zur Götgata, um mir ein Taxi zu suchen.
Zu Hause beschloß ich, später am Abend Regina anzurufen und zu fragen, ob ich bei ihr mein teures Feuerzeug vergessen hätte. Ich könnte dann auch eine Entschuldigung für meinen übereilten und nicht angekündigten Aufbruch vorbringen.
Die Zeit schlich dahin. Als ich zur Begleitung von drei Wodka Kurant meine Aufzeichnungen und Textentwürfe zu meinem neuen Buch ansah (eine Verteidigungsrede für das uneingeschränkte ästhetische Recht, gegen allgemein akzeptierte Normen zu verstoßen), griff meine Hand wie von selbst zum Telefon und wählte Reginas Nummer.
»Ach, hallo«, sagte sie mit vor Muttermilch triefender Stimme. »Tut mir leid, daß ich mich nicht um dich kümmern konnte, aber du weißt ja, hier war soviel Verwandtschaft, daß ...«
»Ich wollte eigentlich selbst um Entschuldigung bitten«, fiel ich ihr ins Wort. »Aber mein Magen hat offenbar ein ziemlich rohes Steak nicht so recht vertragen, deshalb hab ich mich nicht so ganz wohlgefühlt.«
»Ja, davor sollte man sich um diese Jahreszeit hüten, du hast ja keine Ahnung, wie Inger und ich um die Wette gekotzt haben, als wir das Europride-Festival in Kopenhagen besucht und in der Hitze irgendwas Falsches gegessen hatten. Trink einen Gammeldansk, das hilft. Äaaai! Fabian beißt!«
»Aber das hast du doch sicher alles schon mal erlebt, mit deinem anderen Sohn«, sagte ich, um auf diese Weise das Gespräch in die gewünschte Richtung zu lenken.
»Jocke? Der war als Baby so bescheiden und ruhig, daß ich mir fast schon Sorgen gemacht habe. Er hat nur gegessen und geschlafen und war ansonsten mit dem Leben zufrieden.« An dieser Stelle seufzte Regina, und ich schlug natürlich sofort zu.
»Warum seufzt du?«
»Ach, wenn es nur so geblieben wäre. Jetzt ist er total unmöglich. Und deshalb muß er bei seinem Trottel von Vater wohnen. Aber das ist auch keine Lösung, ich meine, sein Alter hat doch Probleme mit ... Sag mal, hab ich dir wirklich nicht von Matti erzählt?«
»Nein, leider nicht«, sagte ich und legte soviel Interesse in meine Stimme, daß ich meine ohnehin schon großartige schauspielerische Begabung noch übertraf. »Wäre vielleicht an der Zeit, das mal zu tun.«
»Meine Güte, so besonders war das auch wieder nicht«, murmelte Regina. »Matti hab ich kennengelernt, als ich noch nicht aus dem Schrank hervorgekommen war und mit den falschen Männern herumhing, du weißt schon, mit Halbgangstern und Psychopathen. Matti war heroinabhängig, dieser Arsch. Aber das ist mir erst nach Jockes Geburt aufgegangen. Vorher hatte ich nur gemerkt, daß irgendwo die Scheiße lief, weil er manchmal tagelang verschwunden war. Aber eines Morgens hab ich Matti im Badezimmer mit einer Nadel im Arm entdeckt, er hatte vergessen, die Tür abzuschließen. Und zugleich mußte ich feststellen, daß er für das Zeug unsere gesamten Ersparnisse verbraucht hatte. Also flog er raus. Aber jetzt ist er seit einigen Jahren clean, das behauptet er zumindest. Ich weiß nicht, was ich glauben soll, aber er arbeitet in einem Therapiezentrum für Drogensüchtige, und da darf man sicher selbst nicht fixen. Glaubst du, es ist falsch, Jocke bei ihm wohnen zu lassen?«
»Kommt sicher auf Jocke an«, sagte ich und konnte meinen dringenden Wunsch, mehr über diesen Wunderknaben zu erfahren, sehr gut verstecken.
»Dem ist es einfach scheißegal, was ich sage! (Hier schlug Reginas Stimme ins Falsett um.) Er sitzt bloß auf seinem Zimmer und spritzt Laken und Tapeten voll. (Mmmm, dachte ich. Köstlicher Nektar wird da vergeudet!) Wenn er sich nicht draußen rumtreibt.«
»Rumtreibt?«
»Ja, wie jetzt. Er ist so gegen vier verschwunden und hat sich noch nicht wieder sehen lassen. Er ist genau wie sein Herr Papa. Matti hat schon mit zwölf Jahren so angefangen. Und Jocke ist doch erst dreizehn. Ja, ich meine, er wird am zwanzigsten Juni vierzehn, aber trotzdem ...«
Dreizehn?! Diese Zahl jagte durch meine Gehörgänge in meinen gierigen Unterleib, der seinerseits eine Welle der Schuldgefühle zum Sitz meines Gewissens hochspülte. Mein Gesicht glühte.
»Er ist erst dreizehn?«
»Ja, leider«, seufzte Regina. »Aber er ist verdammt früh entwickelt, das hat er auch von Matti. Und ich muß mich doch um den kleinen Fabian kümmern, ich bringe es nicht über mich, in der Stadt herumzurennen und meinen großen Bengel zu suchen. Und Inger tut das auch nicht. Sie ist mit Jocke eigentlich noch nie gut ausgekommen. Aber er soll den Sommer über bei uns in der Stadt bleiben, Matti arbeitet dann auf einem Gut in Frankreich, wo Drogensüchtige aus ganz Europa behandelt werden. Jetzt aber spiele ich wirklich mit dem Gedanken, Jocke doch noch hinzuschicken. Ich dachte zuerst, der Umgang mit all den Junkies und Haschern könnte gefährlich für ihn sein. Was meinst du?«
»Ich glaube, da hast du ganz recht, Regina«, sagte ich eilig. Sie durfte doch den frischentdeckten Silberstreifen an meinem Horizont nicht wegschicken, und deshalb fügte ich hinzu: »Wenn es zu schwierig für dich wird, bin ich ja auch noch da. Ja, ich habe in diesem Sommer wirklich nichts Besseres vor, Lola ist bei ihrer Großmutter in Schonen, und ich will an meinem neuen Buch arbeiten.«
»Ich möchte bloß wissen, wo er jetzt gerade steckt«, knurrte Regina, wurde aber sofort von einem wütenden Säuglingsschrei übertönt, dem eine Beratung zwischen Regina und Inger folgte. Ich wartete, bis das Babygeplärr verklungen war, dann bot ich noch einmal meine Hilfe an.
»Du Arme, ich höre ja, was bei euch los ist«, sagte ich mit fester, mütterlicher Stimme. »Weißt du was, ich kann doch versuchen, deinen jungen Ausreißer zu finden.«
»Ja, wenn du das über dich bringen würdest«, sagte Regina. »Der ist bestimmt irgendwo in Söder. Aber lauf dir bloß nicht die Beine aus dem Bauch.«
Ich wäre um den Äquator gelaufen, um diesen kleinen Honigbolzen aufzuspüren, dachte ich, als ich mich Södermalm mit langen, energischen Schritten näherte. Dort suchte ich dann methodisch die Jugendpiste ab und schaute in allerlei dunkle Kellerlöcher. Was jedoch ohne Erfolg blieb. Mein letzter Anlaufplatz in der Gegend war eine Bierhalle namens Kvarnan, wo ich mich am Tresen niederließ und das ganze Lokal im Griff hatte. Es herrschte schon ziemliches Gedränge, und ich mußte Fragen beantworten, deren Einfältigkeitsgrad sich jede halbe Stunde mit sich selbst multiplizierte. Grobe, untersetzte Zwanzigjährige mit dünnem Bartwuchs dominierten das Bild, sicherlich vor allem deshalb, weil ich mich in einer klassischen Arbeiterkneipe befand, wo die Jungstiere einen nostalgischen Workingclass hero-Look pflegten. Was mich fast schon wütend machte.
Wie aufs Stichwort stimmte dann die Mehrzahl der mit Bier zugedröhnten Männchen ein Trinklied an, dessen Schunkeltakt mich fast dazu veranlaßt hätte, meine Barrunde abzubrechen. Nicht, daß ich etwas gegen Animalisches an sich einzuwenden gehabt hätte. Aber schnöde Herdenmentalität hat mich eben schon immer abgestoßen.
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