Perowskajas Widerwille der mondänen Petersburger Oberklasse gegenüber übertrug sich auf die zwei jüngeren Kinder, besonders bei Sofja prägte sich diese Abneigung intensiv ein: »Während dieser Tanzabende tummelten Sonja und ich uns zwischen den Gästen, oder noch lieber setzen wir uns irgendwo in die Ecke und machten uns lustig über die herausgeputzten Damen mit ihren tiefen Dekolletés. Es waren die einzigen Bälle, die meine Schwester jemals besuchte. Auch als sie älter wurde, mied sie sämtliche Veranstaltungen solcher Art«, behauptet Wassili Perowski.
Neben den allmählich zum Alltag gewordenen Eheszenen tauchte ein weiteres Problem auf. Der Verdienst eines Mitglieds des Staatsrates, was der Graf jetzt war, reichte vorne und hinten nicht für ein Luxusleben, das ihm sein ehemaliger Posten ermöglicht hatte. Aber den eigenen sozialen Abstieg so offen zur Schau zu stellen und ihn obendrein noch zu akzeptieren, das wollte oder konnte er nicht. So gab der Graf weiterhin das Geld mit vollen Händen aus, weswegen die Familie bald vor einem Schuldenberg stand. Zum Ausmaß der wirtschaftlichen Misere trug gleichermaßen der Einnahmeausfall der vier geerbten Landgüter auf der Krim bei. Dieser kam dadurch zustande, dass ihr Verwalter in die eigene Tasche wirtschaftete und keinen Rubel nach Petersburg schickte. Der Not gehorchend, verkaufte Perowski die unschätzbar wertvolle Kollektion chinesischen Porzellans samt einigen Stücken des Antikmobiliars, eigentlich alles, was ihm sein mittlerweile schwer erkrankter Bruder Petr schenkte, bevor er zu Heilungszwecken nach Genf übersiedelte.
Als nun die Familienikonen verscherbelt wurden, versuchte die energische Perowskaja zu retten, was noch zu retten war. Sie entließ den Verwalter und fuhr mit den Töchtern im Sommer 1867 auf das Landgut »Kilburn«, während die Studenten Nikolaj und Wassili mit dem Vater in Petersburg zurückblieben. Die Trennung der Eheleute tat vor allem den Kindern gut: Sie wurden von den qualvollen, peinlichen Streitereien verschont. Dennoch schaffte es der Graf lediglich bis zum Winter, mit den Söhnen allein zu leben, dann aber, merklich überfordert, teilte er der Ehefrau mit, er wolle sich von ihr trennen, woraufhin er »bei einer moralisch anrüchigen Frau und deren Tochter zwei Zimmer anmietete«.
Im Unterschied zu den sich selbst überlassenen Brüdern erlebte Sofja dagegen eine unbekümmerte Zeit auf dem Lande, wo sie inzwischen reiten lernte: »Wir hatten auf dem Anwesen tatarische Braune, die zum Reiten hervorragend geeignet waren, was die Schwestern natürlich restlos auskosteten«, liest man bei Perowski weiter. »Insbesondere Sonja ritt leidenschaftlich gerne und hatte daran unheimlich viel Spaß, das Pferd galoppieren zu lassen. Da es aber nur einen Frauensattel gab, machte es ihr nichts aus, den für Männer zu benutzen.«
Nach zwei Jahren bereitete Perowski mit seiner Ankunft im Sommer der Krimer Idylle ein jähes Ende. Da die Landgüter »Kilburn« und »Nikolskoje« mit Hypotheken belastet waren und dem Grafen ein Gerichtsverfahren drohte, sah er sich gezwungen, zuerst das etwa 600 Hektar große »Nikolskoje« für 49000 Rubel zu veräußern. Zur Schuldenbegleichung reichte die Summe trotzdem nicht, und nun kam auch »Kilburn« unter den Hammer.
So packte die Mutter erneut die Koffer und brach mit den Mädchen gen Norden auf. Während der Zugreise begegnete Sofja einer jungen Frau namens Anna Wilberg. Die kleinwüchsige, pummelige Brünette mit strengen Gesichtszügen hatte bereits ihr Elternhaus verlassen, um sich in Petersburg bei den Alartschinski-Kursen einzuschreiben. So bezeichnete man populär die an der Alartschin-Brücke gelegene, im Frühling eröffnete staatliche Einrichtung für Frauenbildung. Es war in der Tat ein bemerkenswertes Ereignis, denn noch bis vor kurzem waren die Tore der Lehranstalten für Mädchen versperrt. Eine damalige Russin – natürlich nur, wenn sie aus einer wohlhabenden Familie kam – hatte lediglich die Möglichkeit, entweder im häuslichen, also privaten Bereich oder aber in einem Klosterinternat ihre Ausbildung zu erwerben.
Zu der grundsätzlich neuen Bestimmung des sozialen Status der Frauen kam es eigentlich schon 1856, nach dem Ende des Krimkrieges, den Russland gegen das Osmanische Reich, Frankreich und Großbritannien geführt hatte. Der dreijährige Feldzug erwies sich für das Zarenreich nicht nur als eine militärische Katastrophe, vielmehr offenbarte er gnadenlos alle Schwächen des rückständigen feudalen Imperiums.
Eine Erneuerung an »Haupt und Gliedern« erwies sich also als bitter nötig, was den damals sechsunddreißigjährigen Alexander II. dazu veranlasste, weitreichende Reformen einzuleiten, als er ein Jahr vor dem Kriegsende den Thron bestieg und sein schweres Erbe antrat. Im Prozess der Modernisierung nahm er auch eine grundlegende Reorganisation des Bildungssystems in Angriff. Neben dem weiteren Ausbau von schon bestehenden Grund- und Mittelschulen für Knaben, die nun für alle Bevölkerungsschichten zugänglich gemacht wurden, richtete man parallel dazu auch die ersten Mädchenschulen ein und gestattete Frauen das Ausüben von pädagogischen und medizinischen Berufen, welche die mittlere Reife voraussetzten. In den Gymnasial- und Hochschulprogrammen setzte man die Priorität auf praktische, also naturwissenschaftliche und technische Fächer zuungunsten der klassischen, da Russland für seinen langfristig angelegten Industrialisierungsprozess Ingenieure, Physiker, Handwerker oder Wirtschaftsfachleute weit dringender brauchte als Gräzisten oder Latinisten.
Die Universitäten erhielten Autonomie, und in diesem Rahmen entstanden Bibliotheken, Hilfskassen sowie Küchen zur Unterstützung sozial schwacher Studierender. Zum ersten und zum letzten Mal in diesem Jahrhundert wurde in Russland die Benutzung von ausländischer Literatur erlaubt. Die mit dem Bildungswesen fest verknüpfte Rede- und Pressefreiheit schlug sich in zahlreichen nichtstaatlichen Publikationen nieder, es kam zur Lockerung der Zensur, und 1859 erschien sogar die erste Frauenzeitschrift. Einige Monate danach erfolgte ebenfalls die Zulassung von Frauen zu den Universitäten.
Aber nach dem Attentat Dmitri Karakosows legte der erzürnte Alexander II. alle Reformpläne auf Eis, indem er einen reaktionären politischen Kurs einschlug. Nach einigen Jahren des Stillstands stellte ein Gesetzentwurf Ende der 1860er Jahre eine Verbotsaufhebung hinsichtlich der Frauenhochschulbildung in Aussicht, wobei der Gesetzgeber den Russinnen vorerst lediglich die Zulassung zum Medizinstudium gewährte. Ausschließlich diesem Fakt hatten die Alartschinski-Kurse ihre Entstehung zu verdanken. Sie wurden mit dem Ziel gegründet, junge Frauen auf das Universitätsstudium vorzubereiten. Demzufolge fungierten sie als eine Art Mädchengymnasium. Ihre Einrichtung fand bei den namhaftesten Pädagogen der damaligen Zeit begeisterten Beifall, sie erklärten sich sofort zum Unterricht bereit und verzichteten sogar auf Entgelt, da sich der Staat nur mit einer symbolischen Summe an der Finanzierung der pädagogischen Anstalt beteiligte und die dafür erforderlichen Gelder größtenteils aus Spenden oder aber aus Kursgebühren stammten.
Offensichtlich gelang es der fünfundzwanzig Jahre alten Anna Wilberg im Laufe der langen Reise, ihren Enthusiasmus nicht nur auf ihre Mitreisende zu übertragen, sondern sie überredete die junge Frau auch noch dazu, ihrem Entschluss zu folgen. Und Sofja entschied sich schnell, ohne lange Überlegungen, denn aufgrund der prekären finanziellen Situation engagierte Perowski seit drei Jahren keine Hauslehrer mehr, und notgedrungen lernten Sofja und Marja autodidaktisch. Zurück in Petersburg, nahm Sofja schon im gleichen Jahr ihre Ausbildung auf, und täglich, von sechs Uhr früh bis neun Uhr abends, verbrachte sie ihre Zeit auf der Schulbank. »In den Algebra-Stunden hob sich eine junge Frau durch ihre beträchtliche Begabung von uns ab«, so eine Kursteilnehmerin. »Mit ihren glatt gekämmten Haaren, ihrem schlichten braunen Kleid mit weißem Kragen ähnelte sie eher einem kleinen Mädchen. Sie saß immer in der ersten Reihe neben ihrer wesentlich älteren Freundin Anna Wilberg. Bei privaten Gesprächen hielt sie sich zurück, sodass kaum jemand sie näher kannte. Diese bescheidene, schweigsame Schülerin war die sechzehnjährige Sofja Perowskaja.«
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