Auch diesmal vergingen einige Stunden, bis der Vater endlich erschien. Dann klagte er über sein ausführliches Gespräch mit den Gendarmen, über viele Erklärungen, welche diese von ihm verlangten. Von ihnen habe er auch in Erfahrung gebracht, dass Sonja bei ihrer Festnahme in einem furchtbaren Zustand gewesen sei. … Danach habe er die Schwester kurz gesehen, wobei die beiden geheult hätten. Aber Sonja habe er noch nicht mit nach Hause nehmen dürfen und sei abermals um ein wenig Geduld gebeten worden.
Zwei Tage später erschien der Offizier bei dem Vater und verkündete, er könne die Tochter abholen, dennoch nur unter der Voraussetzung, dass sie unter Hausarrest gesetzt werde. Gespannt wartete ich auf die Schwester, bis ich sie endlich in die Arme schloss. Sonja erzählte mir, wie der Vater bitter geweint habe, weswegen auch sie die Tränen nicht zurückzuhalten vermochte.«
Dank der Kaution von fünftausend Rubel setzte die Polizei Sofja bis zum Beginn des Gerichtsprozesses auf freien Fuß, und von jetzt an lebte die junge Frau bei dem Vater. Dieser aber ging jeden Abend mit seiner Freundin zu verschiedenen Vergnügungsstätten aus, und so weilte das Mädchen bis tief in die Nacht in der leeren Wohnung allein, sehr oft auch tagsüber, weil der Graf bis ein Uhr mittags, manchmal sogar noch länger, schlief.
So blieb Sofja auch jenseits der Kerkermauern sich selbst überlassen. Die Einsamkeit, das Alleinsein konnte die junge Frau ganz schlecht ertragen – und in einer für sie vollkommen neuen Situation wie dieser erst recht nicht. Dringender als je zuvor brauchte sie einen festen Halt, eine Stütze. So dauerte es nicht lange, bis sie wieder Verbindung mit ihren Zirkelfreunden aufnahm, die entweder der Polizei entwischt waren oder aber wie sie selbst gegen Sicherheitsleistung mittlerweile entlassen worden waren. Zuerst trafen sich die jungen Leute bei Sofja. Doch bald bekam die Dritte Abteilung Wind von dem neuen konspirativen Zentrum, was die Gruppe veranlasste, nach sichereren Versammlungsorten zu suchen.
Einer von diesen war die Wohnung der Wera Figner. Dank der rechtzeitigen Warnung entkam die Feldscherin der Arrestwelle, verließ fluchtartig die Provinz und hielt sich nun in Petersburg versteckt. »Sofja Lwowna begegnete ich zum ersten Mal 1874, als sie sich unter Hausarrest befand. Alexandra Kornilowa brachte sie zu mir und bat mich, Sonja bei mir übernachten zu lassen«, berichtet die Figner. »Ihr Aussehen fiel mir sofort auf: Mit einem einfachen Hemd angezogen, ähnelte sie eher einem Bauernmädchen. Ihr Gesicht strahlte etwas Jugendliches, ja Kindliches aus, was wiederum im Widerspruch zu ihrer eisernen Willens- und Charakterstärke stand. Überhaupt prägte ihre ganze Erscheinung sowohl eine feminine Milde als auch eine maskuline Härte.«
Im Juni 1874, zur Zeit von Sofjas Entlassung, war der »Tschaikowzen«-Zirkel praktisch schon zerschlagen und daher zu groß angelegten Aktionen nicht mehr fähig, besonders nicht, nachdem sein Anführer Nikolaj Tschaikowski im gleichen Jahr die Träume von der Revolution aufgegeben hatte und in eine religiöse Sekte in Amerika eingetreten war. Andererseits hätte jede noch so harmlose Form von Propaganda ausgerechnet in diesem Augenblick verheerende Folgen für die in Gewahrsam genommenen Kommunarden gehabt, während diejenigen, die sich wie Sofja unter Hausarrest befanden, mit einer erneuten, sofortigen Festnahme rechnen mussten. Die jungen Idealisten vegetierten also vor sich hin, und die Tatenlosigkeit machte Sofja zu schaffen. Die einzige Aufgabe der jungen Frau bestand darin, mit den inhaftierten Freunden die Kommunikation aufrechtzuerhalten. Da diese immer noch den Status der Häftlinge in Untersuchungshaft besaßen, waren ihnen weder Besuche noch Briefwechsel gestattet, so waren sie weiterhin von der Außenwelt abgeschnitten. Aber ein paar Rubel, womit Sofja einen Gendarmen bestach, sorgten schließlich für einen einwandfreien Nachrichtenumlauf.
Die Passivität hielt Sofja auf die Dauer nicht aus, so fasste sie kurzerhand den Entschluss zum Umzug auf die Krim. »Der Vater begrüßte herzlich Sonjas Entscheidung, weil er sich durch ihre Anwesenheit sehr beengt fühlte.«
Etwa einen Monat später traf das Mädchen auf »Primorskoje« ein. Dort fand sie die Mutter vor, die nur mit großer Mühe das karge Dasein meisterte. Wegen hoher notarieller Gebühren verpachtete die Gräfin notgedrungen das Landgut und bewohnte zusammen mit Nikolaj ein bescheidenes gemietetes Häuschen in der Nähe des Anwesens.
Lange ertrug Sofja die provinzielle Stille der Krim nicht. Ihr Tatendrang meldete sich wieder. Obwohl die junge Frau unter Hausarrest stand, erlaubte ihr die Mutter, ins Gouvernement Twer zu fahren, wo sich das Mädchen dann in einer Arztpraxis als Aushilfe betätigte.
Die Nachricht über die Eröffnung von Kursen für Feldscherinnen, organisiert vom Landkrankenhaus in Simferopol, bewog die wissbegierige Sofja zur Rückkehr auf die Krim. Sie schrieb sich ein, und zusammen mit einigen Kolleginnen bezog sie eine Wohnung in der Stadt. »Sofja lebte äußerst zurückhaltend, widmete sich ausschließlich der Arbeit in der Klinik, weshalb sie den ungeteilten Respekt der Ärzte genoss und als deren Assistentin eingesetzt wurde, bevor sie überhaupt die Ausbildung absolvierte.
Unter ihren Patientinnen befand sich auch eine alte, an Brustkrebs dahinsiechende Frau, die Sofja einige Monate täglich zu Hause besuchte und ihr die Verbände wechselte. Das Mädchen kümmerte sich so hingebungsvoll um die Bettlägerige, dass diese kaum erwarten konnte, ihre Pflegerin wiederzusehen. Allein Sofjas Lächeln, so die Kranke, lindere ihr die Schmerzen.«
Es schien, als wäre es der jungen Frau zum ersten Mal gelungen, eine inhaltsvolle Beschäftigung zu finden, eine Beschäftigung, die sie vollkommen erfüllte, worin sie endlich einen Sinn entdeckte. Aber auch diese Erfüllung, wie übrigens jede zuvor und danach in ihrem kurzen Leben, sollte nicht von Dauer sein.
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