Vor allem hatten diese frühen Philosophen eine Ahnung von den natürlichen Grenzen und rechneten damit, daß das Wirtschaftswachstum irgendwann enden würde. Als die wesentlichen Bestandteile der Wirtschaft betrachteten sie Boden, Arbeitskraft und Kapital . Auf der Erde gab es nur eine bestimmte Menge Boden (mit dem Begriff meinten diese Theoretiker alle natürlichen Ressourcen), und ganz gewiß würde die Expansion der Wirtschaft an einem bestimmten Punkt enden. Malthus und Smith vertraten beide explizit diesen Standpunkt. Ein etwas späterer Wirtschaftsphilosoph, John Stuart Mill (1806–1873), formulierte es so: »Die Volkswirte müssen es stets mehr oder minder deutlich erkannt haben, daß die Zunahme des Nationalvermögens nicht unbegrenzt sei, daß am Ende des sogenannten progressiven Zustandes der stationäre Zustand liege …« 9
Doch beginnend mit Adam Smith setzte sich der Gedanke durch, daß eine kontinuierliche »Verbesserung« der Lebenssituation der Menschen möglich sei. Zunächst blieb – vielleicht mit Absicht – vage, was »Verbesserung« (oder »Fortschritt«) bedeutete. Nach und nach wurden »Verbesserung« und »Fortschritt« gleichgesetzt mit »Wachstum« im heutigen ökonomischen Sinn des Wortes – abstrakt ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP), praktisch ein Anstieg des Konsums.
Ein Schlüssel zu dieser Veränderung war, daß die Ökonomen schrittweise den Boden als einen der theoretisch primären Bestandteile der Wirtschaft aufgaben (zunehmend waren nur Arbeit und Kapital wirklich wichtig, Boden wurde zu einer Unterkategorie von Kapital herabgestuft). Das war eine der Weiterentwicklungen, die aus der klassischen Ökonomie die neoklassische machten; außerdem gehören in diesen Zusammenhang die Theorie der Nutzenmaximierung und die Theorie der rationalen Entscheidungsfindung. Das Umdenken begann im 19. Jahrhundert und erreichte seinen Höhepunkt im 20. Jahrhundert mit der Arbeit von Ökonomen, die Modelle für unvollkommenen Wettbewerb und Theorien für Marktformen und industrielle Organisation erforschten und dabei Instrumente wie die Grenzertragskurve verwendeten. (In der Zeit galt die Ökonomie als die »trostlose Wissenschaft« – teils weil ihre Terminologie, vielleicht absichtlich, immer verwirrender wurde.) 10
Unterdessen hatte jedoch der einflußreichste Ökonom des 19. Jahrhundert, ein Philosoph namens Karl Marx, eine metaphorische Bombe in das Fenster des von Adam Smith erbauten Hauses geworfen. In seinem einflußreichsten Buch, Das Kapital , schlug Marx einen Namen für das Wirtschaftssystem vor, das sich seit dem Mittelalter entwickelt hatte: Kapitalismus . Es war ein System, das auf Kapital gründete. Viele Menschen glauben, daß Kapital einfach ein anderes Wort für Geld sei, aber das verfehlt vollkommen den entscheidenden Punkt: Kapital ist Reichtum – Geld, Land, Gebäude, Maschinen –, der für die Produktion von noch mehr Reichtum eingesetzt wird. Wenn Sie Ihr Gehalt für die Miete, Lebensmittel und andere notwendige Dinge verwenden, haben Sie vielleicht gelegentlich Geld übrig, aber Sie haben kein Kapitel. Doch selbst wenn Sie tief in Schulden stecken, haben Sie Kapital, wenn Sie Aktien oder Anleihen besitzen oder einen Computer, mit dem Sie von zu Hause ein Gewerbe betreiben können.
Der Kapitalismus , wie Marx ihn definierte, ist ein System, bei dem sich produktiver Reichtum in privatem Besitz befindet. Im Kommunismus (den Marx als Alternative vorschlug) ist die Gemeinschaft oder der Staat im Namen des Volkes der Besitzer des produktiven Reichtums.
In jedem Fall, so Marx, tendiert das Kapital dazu, zu wachsen. Kapital in privatem Besitz muß wachsen: Weil die Kapitalisten untereinander im Wettbewerb stehen, tendieren diejenigen, die ihr Kapital schneller vermehren, dazu, das Kapital der anderen, die hinterherhinken, aufzusaugen. Insofern hat das System insgesamt einen eingebauten Expansionsdrang. Marx schrieb auch, der Kapitalismus sei seiner Natur nach nicht nachhaltig, denn wenn die Arbeiter durch die Kapitalisten weit genug in Armut getrieben sind, werden sie sich erheben, ihre Herren stürzen und einen kommunistischen Staat errichten (oder schließlich das Arbeiterparadies ohne Staat).
Der rücksichtslose Kapitalismus des 19. Jahrhunderts führte zu Phasen von Konjunktur und Krise und einem großen Ungleichgewicht bei der Verteilung des Reichtums – und deshalb zu viel gesellschaftlicher Unruhe. Mit Blick auf die Krise von 1873, den Crash von 1907 und schließlich die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre hatten viele zeitgenössische Gesellschaftskommentatoren den Eindruck, der Kapitalismus sei in der Tat im Scheitern begriffen und soziale Erhebungen, wie von Marx prophezeit, seien unvermeidlich. Die bolschewistische Revolution 1917 schien diese Hoffnungen oder Befürchtungen (je nach Standpunkt des Betrachters) zu bestätigen.
Wirtschaftswissenschaft im 20. Jahrhundert
Ende des 19. Jahrhunderts entstand der Sozialliberalismus als eine gemäßigte Antwort auf den reinen Kapitalismus wie auf den Marxismus. Die Pioniere des sozialliberalen Denkens, der Soziologe Lester F. Ward (1841–1913), der Psychologe William James (1842–1910), der Philosoph John Dewey (1859–1952) und der Arzt und Essayist Oliver Wendell Holmes (1809–1894), argumentierten, die Regierung habe die legitime wirtschaftliche Aufgabe, sich um soziale Belange wie Arbeitslosigkeit, Gesundheitswesen und Bildung zu kümmern. Die Sozialliberalen kritisierten die hemmungslose Konzentration von Reichtum in der Gesellschaft und die Lebensbedingungen von Fabrikarbeitern und bekundeten zugleich Sympathie für Gewerkschaften. Ihr übergeordnetes Ziel war es, die Dynamik des privaten Kapitals zu erhalten, aber seine Exzesse einzuschränken.
Nichtmarxistische Ökonomen kanalisierten die sozialliberalen Ideen in ökonomische Reformen wie die progressive Einkommensbesteuerung und das Kartellrecht. Der einflußreichste Vertreter dieser Schule im frühen 20. Jahrhundert war John Maynard Keynes (1883–1946). Er empfahl, wenn die Wirtschaft in eine Rezession gerät, solle die Regierung großzügig Geld ausgeben, um das Wachstum anzukurbeln. Franklin Roosevelts Programme im Rahmen des New Deal in den 1930er Jahren waren ein Labor für keynesianische Wirtschaftswissenschaft, und allgemein ist man der Meinung, daß die gewaltigen Kreditaufnahmen und Ausgaben der Regierung im Zweiten Weltkrieg die Weltwirtschaftskrise beendeten und die Vereinigten Staaten auf den Pfad des Wirtschaftswachstums zurückbrachten.
Die nächsten Jahrzehnte waren beherrscht vom Gegensatz zwischen keynesianischen Sozialliberalen, Anhängern von Marx und zeitweilig marginalisierten neoklassischen oder neoliberalen Ökonomen, die darauf beharrten, soziale Reformen, staatliche Kreditaufnahme und Manipulationen mit Zinssätzen würden nur die einzigartige Effizienz des freien Marktes behindern.
Mit dem Fall der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre verstummte der Marxismus als überzeugende Stimme in der Wirtschaftswissenschaft. Er verschwand praktisch aus der Diskussion, und das schuf Raum für den raschen Aufstieg der Neoliberalen, die schon seit geraumer Zeit Auftrieb aus dem verbreiteten Unbehagen über den Zwangscharakter und die Ineffizienz staatlicher Planwirtschaften zogen. Margaret Thatcher und Ronald Reagan stützten sich beide stark auf Empfehlungen neoliberaler Denker wie des Monetaristen Milton Friedman (1912–2006) und der Vertreter der Österreichischen Schule von Friedrich von Hayek (1899–1992).
Heute gibt es in Rußland eine Redensart: Marx hatte unrecht mit allem, was er über den Kommunismus sagte, aber er hatte recht mit allem, was er über den Kapitalismus schrieb. Seit den 1980er Jahren hat die nahezu weltweit zu beobachtende Rückkehr zum klassischen ökonomischen Denken zu wachsender Ungleichheit bei der Verteilung des Reichtums geführt, in den Vereinigten Staaten wie anderswo, und zu häufigeren und schlimmeren ökonomischen Blasen und Einbrüchen.
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