1.1WARUM WURDE WUCHER GEÄCHTET?
Tim Parks schreibt in seinem Buch Das Geld der Medici:
»Mit der Erhebung von Zinsen verändert sich das [Funktionieren der Wirtschaft]. Durch die Verzinsung ist Geld nicht einfach nur eine stabile Metallware, auf die man sich als Tauschmittel geeinigt hat. Auf lange Sicht vermehrt es sich, und zwar ohne jede Anstrengung seitens des Verleihers. Jetzt kommen die Dinge in Fluß. Ein Mann kann sich Geld leihen, einen Webstuhl kaufen, die Wolle zu einem hohen Peis verkaufen und seinen Status in der Welt verbessern. Ein anderer Mann kann sich Geld leihen, dem ersten Mann die Wolle abkaufen, sie ins Ausland verschiffen und dort zu einem noch höheren Preis verkaufen. Er steigt gesellschaftlich auf. Oder, wenn er Pech hat oder dumm ist, er ruiniert sich. Unterdessen wird der Bankier, der Geldverleiher, immer reicher. Wir erfahren nicht einmal, wie reich er ist, weil Geld weggesteckt und verborgen werden kann und Gewinne aus finanziellen Transaktionen schwer aufzuspüren sind. Es ist sinnlos, seine Schafe und Kühe zu zählen oder nachzumessen, wieviel Land er besitzt. Wer wird ihn dazu bringen, daß er seinen Zehnten abgibt? Daß er seine Steuern bezahlt? Wer wird ihn ermahnen, auf seine Seele zu achten, wo doch das Leben so gewinnbringend ist? Die Dinge geraten außer Kontrolle.« 6
Wirtschaftslehre für Eilige
Wir haben soeben einen Überblick über die Geschichte der Wirtschaft gegeben – jener Systeme, durch die Menschen Reichtum schaffen und verteilen. Die Wirtschaftswissenschaft hingegen besteht aus Denkgebäuden, Ideen, Gleichungen und Annahmen, die beschreiben, wie diese Systeme funktionieren oder funktionieren sollten. 7
Die Geschichte der Wirtschaftswissenschaften beginnt viel später. Zwar können als erste Wirtschaftswissenschaftler antike griechische und indische Philosophen gelten, darunter Aristoteles (382–322 v. Chr.); sie schrieben über die »Kunst« des Erwerbs von Reichtum und fragten, ob Besitz am besten in den Händen von Privatleuten oder in den Händen einer Regierung liegen sollte, die im Namen des Volkes handelt. In den nächsten 2000 Jahren ist aber wenig wirklich Substantielles zu diesen Fragestellungen hinzugekommen.
Richtig in Gang kam das Nachdenken über Wirtschaft im 18. Jahrhundert: »Klassische« ökonomische Philosophen wie Adam Smith (1723–1790), Thomas Robert Malthus (1766–1834) und David Ricardo (1772–1823) führten grundlegende Konzepte ein wie Angebot und Nachfrage, Arbeitsteilung und das Gleichgewicht im internationalen Handel. Wie in so vielen Disziplinen standen die frühen Vertreter vor gänzlich unerforschtem Neuland und machten sich daran, ihren Forschungsgegenstand erst einmal zu kartieren. Spätere Forscher konnten die großen Linien dann in immer kleineren Schritten vervollkommnen.
Diese Pioniere begannen damit, die Naturgesetze aufzuklären, nach denen Volkswirtschaften tagtäglich funktionieren. Ihr Bestreben war es, aus der Wirtschaftslehre eine Wissenschaft zu machen, die sich gleichrangig neben den entstehenden Disziplinen Physik und Astronomie behaupten sollte.
Wie alle Denker müssen wir auch die klassischen Wirtschaftstheoretiker im Kontext ihrer Zeit betrachten, um sie richtig zu verstehen. Im 17. und 18. Jahrhundert geriet die europäische Machtstruktur unter Druck: Aus den Kolonien strömte Reichtum nach Europa, Kaufleute und Händler wurden reich, aber fühlten sich durch die überkommenen Privilegien des Adels und der Kirche zunehmend eingeengt. Die Wirtschaftsphilosophen hinterfragten die etablierten Privilegien des Adels, und sie bewunderten die Fähigkeit der Physiker, Biologen und Astronomen, die alten Lehren der Kirche zu widerlegen und durch Beobachtung und Experiment neue universelle »Gesetze« zu formulieren.
Die Physiker schoben biblische und aristotelische Lehrsätze, wie die Welt angeblich funktionierte, beiseite und untersuchten aktiv Naturphänomene wie die Gravitation und den Elektromagnetismus – Grundkräfte der Natur. Die Wirtschaftsphilosophen ihrerseits konnten auf den Preis als Schiedsrichter zwischen Angebot und Nachfrage verweisen, der überall eine viel wirkungsvollere Allokation von Ressourcen bewirkte, als menschliche Verwalter oder Bürokraten es je schafften. Das war doch wirklich ein ebenso universelles und unpersönliches Gesetz wie das der Gravitation! Isaac Newton hatte gezeigt, daß es mit den Bewegungen der Sterne und Planeten mehr auf sich hatte, als im Buch Genesis geschrieben stand; Adam Smith wies nach, daß Grundsätze und Praxis des Handels mehr Potential enthielten, als sich jemals durch die alten, förmlichen Beziehungen zwischen Fürsten und Bauern und zwischen den Angehörigen mittelalterlicher Zünfte hatte verwirklichen lassen.
Die klassischen Theoretiker wandten nach und nach mathematische Verfahren an und übernahmen teilweise naturwissenschaftliche Terminologie. Leider gelang es ihnen nicht, in die Wirtschaftswissenschaften auch solche Selbstkorrekturmechanismen zu integrieren, wie sie definitionsgemäß zu den Naturwissenschaften gehören. Die ökonomische Theorie erforderte keine falsifizierbaren Hypothesen und keine wiederholbaren, kontrollierten Experimente (die sich sowieso auf diesem Gebiet nur sehr schwer hätten organisieren lassen). Die Ökonomen fühlten sich zunehmend als Wissenschaftler, während ihre Disziplin ein Teil der Moralphilosophie blieb – und größtenteils bis heute geblieben ist. 8
Die Vorstellungen der Wirtschaftsphilosophen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts bildeten den klassischen wirtschaftswissenschaftlichen Liberalismus . Der Begriff liberal verweist in diesem Zusammenhang auf die Überzeugung, wirtschaftlich Verantwortliche sollten die Märkte frei und ungehindert wirken und die Preise festsetzen lassen, ohne Eingriffe von außen; auf diese Weise finde die Allokation von Gütern, Dienstleistungen und Reichtum statt. Daher stammt der Begriff laissez-faire (französisch für »geschehen lassen«, »tun lassen«).
In der Theorie war der Markt eine segensreiche Quasi-Gottheit, die unermüdlich für das Wohl jedes Einzelnen wirkte, indem sie die Gaben der Natur und die Erzeugnisse menschlicher Arbeitskraft so effizient und gerecht wie möglich verteilte. Aber faktisch profitierten nicht alle gleichmäßig oder (nach Ansicht vieler Menschen) gerecht von Kolonialherrschaft und Industrialisierung. Der Markt arbeitete vor allem zum Vorteil derjenigen, für die Geldverdienen das Wichtigste im Leben war (Bankiers, Händler, Industrielle und Investoren) und die zufällig auch noch klug waren und Glück hatten. Er funktionierte auch einigermaßen für alle, die reich geboren worden waren und es schafften, ihr Geburtsrecht nicht zu verspielen. Andere hingegen, denen mehr daran gelegen war, Feldfrüchte zu kultivieren, Kinder zu unterrichten, sich um alte Menschen zu kümmern, oder die durch die Umstände gezwungen waren, die eigene Landwirtschaft oder die Heimarbeit zugunsten von Fabrikarbeit aufzugeben, bekamen allem Anschein nach immer weniger – ganz sicher weniger von der gesamten Wirtschaftsleistung und oft auch weniger im absoluten Sinn. War das gerecht? Nun, das war eine moralische und philosophische Frage. Zur Verteidigung des Marktes sagten viele Ökonomen, es sei tatsächlich fair: Kaufleute und Fabrikbesitzer verdienten mehr Geld, weil sie allgemein die wirtschaftliche Tätigkeit steigerten, wovon auch alle anderen profitieren würden … irgendwann. Klar? Der Markt macht keine Fehler. Manchen klang das ein bißchen wie die Zirkelschlüsse mittelalterlicher Kleriker, wenn sie auf Zweifel an der Unfehlbarkeit der Schrift antworteten. Doch trotz ihrer blinden Flecken erwies sich die klassische Wirtschaftswissenschaft als nützlich, um einen Sinn in den unübersichtlichen Details von Geld und Märkten zu erkennen.
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