Hinter Dantes Rollstuhl steht Karan und nickt genauso ernst.
Ich hab ihnen nie erzählt, was auf dem Zettel stand. Ich erzähl’s ihnen auch jetzt nicht. Weil ich noch nicht so wirklich weiß, was es zu bedeuten hatte. Und ich geb einfach nicht so gern was her, bevor ich weiß, was es tut. Ob es vielleicht gefährlich ist und Schaden anrichtet.
„Er hat gesagt: Vor sieben!“, berichte ich Dante und Karan. „Was soll das heißen?“
Dante runzelt die Stirn. „Vor dem Abendessen. Was das heißt? Na, dass er es danach nicht mehr in der Hand hat.“
„Was denn in der Hand?“
Die Halbach bemerkt, dass wir noch nicht auf dem Weg zum Unterricht sind. „Dante Dahlem, Enni Alser, Karan Abbas! Das Läuten gilt auch für euch! Ab zur ersten Stunde!“
„Dich zu decken, glaub ich“, sagt Dante nachdenklich.
„Warum denn decken?“, fahre ich auf. „Er braucht mich nicht zu decken! Ich hab Mo nicht! Ich hab ihn gestern Abend zurückgebracht und im Schuppen geparkt.“ Und da hör ich es. Ich hab mich schon gefragt, ob es kommt. Ein leises Rauschen, als würde von ganz weit weg ganz viel Wasser in meine Ohren brausen. Ich weiß, was als Nächstes kommt … Ich sehe rot. Und dann mach ich was, was mir nachher leidtut. Fenster einwerfen, gegen Wände treten, um mich schlagen …
„Ja. Du allein“, sagt Dante sanft. „Du bist allein mit dem Rasenmäher gefahren und du hast ihn allein zurückgebracht.“
Ich sehe in die grauen Augen, die fast ein bisschen mitleidig wirken. Mitleidig, weil ich’s noch immer nicht gerafft hab. Wenn du was gemacht hast, was keiner gesehen hat, dann hast du’s nicht gemacht. Das hat mir bei unseren Streichen zwar nicht geholfen, aber gegen mich scheint’s
grandios zu funktionieren. Meine Stimme klingt kratzig.
„Du meinst, die wollen mir das anhängen?“
Jetzt sieht mich auch Karan mitleidig an.
!
!
!
Grand Theft Rasenmäher!
„Egal“, sagt Dante und lächelt. „Sobald der Unterricht aus is, suchen wir Mo. Lucky und Mattis helfen sicher mit. Irgendwo muss er ja sein. Los, wir haben Geschichte. Die Pistara verteilt sofort Strafarbeiten, wenn man zu spät kommt.“
Er bewegt lässig eine Hand und sein Rollstuhl zieht vor Karan und mir den Flur entlang. Ich könnte kotzen: Das ist die zweite Strafandrohung für mich heute. Dabei ist es gerade mal fünf vor acht,
!
Wir schaffen es noch rechtzeitig vor Frau Pistara in den Mediensaal. Sie steht vor der großen Leinwand wie ein Kinoproduzent, der auf Premierengäste wartet. Der Saal liegt mitten im Erdgeschoss und hat als einziger Raum im ganzen Internat keine Fenster. Die Wände sind schalldicht, damit der Chor und das Schulorchester hier ungestört üben können. Jeden Samstag gibt’s hier außerdem für alle Internatsschüler einen Kinofilm. Ja, einen
Kinofilm. Und keinen uralten. Irgendwas, was auch in Berlin gerade läuft.
Ich hab mich inzwischen halbwegs beruhigt. Der Gedanke, dass Dante, Karan, Mattis und Lucky mir bei der Suche nach Mo helfen, hat das Rauschen in meinen Ohren leiser werden lassen.
„Wir sind immer noch in der Antike“, ertönt Frau Pistaras tiefe Stimme, als alle sitzen. Sie klingt, als hätte jeder Zuhörer ein Vermögen bezahlt, um sie zu hören. Und ein bisschen, als würde sie im Stillen alle bedauern, die sie nicht hören können. Und sehen! Es stimmt, dass Francesca Pistara komplett verrückt nach früheren Zeiten ist. Selber ist sie total zeitlos. Das ist echt schon
creepy! Sie könnte dreißig sein oder sechzig. Ich glaub, ihr Gesicht hat einfach nie lang genug denselben Ausdruck, damit Falten es sich in irgendeiner Region gemütlich machen können. Mit ihrer schwarzen Mähne und den grünen Augen sieht sie aus wie eine Amazonen-Kriegerin, die keinen Bock gehabt hat, Wonderwoman zu spielen. Wie immer trägt sie einen teuren Hosenanzug, heute einen weißen. Und ihre Schuhe müssten eigentlich im Museum stehen. Im
Waffenmuseum. Ich mein – bei den Absätzen? Alter!
Geschichte hab ich immer gehasst. Echt jetzt – wen interessiert’s, was vor tausend Jahren irgendwer mit irgendwem gemacht oder ausgemacht hat? Okay, ein paar Sachen muss man vielleicht wissen. Du willst ja nicht jeden Morgen aufwachen und erst mal mit den Österreichern darum kämpfen, wo die Grenzen von Deutschland anfangen. Oder klarstellen müssen, dass es keinen
Sklavenhandel in Bayern gibt. Aber wer hier vor zweitausend Jahren gewohnt hat und mit wem die alle verwandt waren, das juckt mich relativ
wenig. Auftritt Dr. Francesca Pistara.
„Wir besuchen heute einen Tatort “, sagt sie trocken. Ich kann trotzdem spüren, dass sie aufgeregt ist und sich freut, unsere Reaktion zu erleben. Sie weiß, sie hat einen Leckerbissen für uns.
„G-g-geil“, sagt Omar auch sofort. „W-w-wie v-v-viele Leichen?“
Ein paar von uns kichern. Frau Pistara nicht.
„Tausende.“
Das Kichern hört auf.
„Al-Qaida“, vermutet ein Mädchen.
„Im antiken Italien“, erinnert uns Frau Pistara. Sie verdreht nicht die Augen, aber sie klingt, als würde sie es tun. „Genauer gesagt, in der Nähe des heutigen Neapel … in Kampanien. 79 nach Christus gibt es hier blühende Städte: Pompeji, Herculaneum, Stabiae und Oplontis … Städte mit riesigen Tempeln, mit Straßen aus Stein, Badehäusern und Theatern, mit Wahlwerbung und Haustieren. Pompeji existiert damals bereits seit eintausend Jahren! Hier finden Pferderennen und Gladiatorenkämpfe statt. Es gibt Politiker und Prostituierte –“
„Geil“, flüstert ein Junge aus dem Tal.
Alle sehen ihn an. Er wird rot. „Gladiatoren!“
„Städte, in denen Steuern bezahlt, Kinder geboren, Geschichte gelehrt, Musik gemacht wird …“, fährt Frau Pistara fort. „Im Herbst des Jahres 79 fängt hier der Boden an zu beben. Erst leicht, dann stärker. Risse entstehen und Gase wabern aus dem Erdreich. Es riecht nach faulen Eiern … Manchen Bewohnern von Pompeji und Herculaneum genügen diese Warnsignale und sie verlassen die Städte. Viele bleiben. Sie wüssten gar nicht, wohin.“
Sie tippt auf ihr Tablet und an der weißen Wand hinter ihr erscheinen Bilder von Tempeln, Theatern, Vasen, Tellern und Statuen. Ich schlucke.
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