Wir drehen alle den Kopf. Dante ist ungewöhnlich blass. Seine Augen leuchten. Er starrt die Bilder auf der Leinwand hinter Frau Pistara an. Er flüstert: „Menschen.“
Frau Pistara nickt anerkennend. „Menschen“, sagt sie. „Und Tiere. Aber auch Möbel aus Holz, Wurzeln, Lebensmittel. Organisches Material. Auch diese Hohlräume, die Abwesenheit von Lebendigem, sind kostbar. Erhaltenswert. Nur, wie? Ja, Enni?“
Ich hab nicht gemerkt, dass ich was gesagt hab. Ich hab an Mathe gedacht. In der Welt der Zahlen geht nichts verloren, nie. Eine Zahl hat immer einen Wert, manchmal einen negativen, wenn ein Minus davorsteht. Aber sie hört nie auf zu existieren. Die Hohlräume sind Menschen mit einem Minus davor. „Schablonen“, sage ich. „Die Löcher sind wie Schablonen. Man muss sie mit irgendwas auffüllen, was hart wird, und dann die Schicht drum rum abschlagen.“
Frau Pistara sieht mich an, als hätte ich gerade einen Marathon gewonnen. Und wäre außerdem ihr einziges Kind. „Exzellent!“, sagt sie. Sie wird nicht laut, aber ihre Stimme trägt auch so. Vielleicht nicht durch das Internat, aber durch die Zeit. Ich weiß jetzt schon, dass ich garantiert nie vergessen werde, wie sie dieses Wort zu mir sagt. Als würde sie mich auf den Schultern tragen.
„Der herausragende Guiseppe Fiorelli hatte dieselbe Idee wie Enni: Er lässt die Hohlräume mit Gips ausgießen und erst danach mit äußerster Vorsicht Stein und Asche rundherum abschlagen. Seid ihr so weit?“
Sie wartet einen Augenblick, in dem wir die Luft anhalten, ehe sie die Bilder weiterlaufen lässt. Als das erste Bild erscheint, denke ich eine Sekunde lang, es hätte ein lautes Geräusch gegeben. Aber es ist vollkommen still. Schweigen hat sich über das Klassenzimmer gelegt wie eine Schicht aus
Asche. Drückender, je länger es dauert.
Auf dem Bild ist eine Mutter zu sehen, die ihr kleines Kind mit beiden Armen an sich drückt. Ihr Kopf ist über den Kopf des Kindes gebeugt. Heute. Vor zweitausend Jahren. Für den Bruchteil einer Sekunde. Für immer. Das nächste Bild zeigt einen Mann, der auf dem Boden liegt und die Arme schützend hebt. Eingefroren in
Todesangst vor dem Flammensturm.
„Ich war dort“, sagt Frau Pistara. „In Pompeji. Ich hab selbst einige der Hohlräume ausgegossen. Ein Kollege nannte die Abdrücke aus Gips damals ‚Schnappschüsse des Grauensʻ. Ein sehr junger Kollege. Für mich hatten nur die wenigsten Abbildungen etwas Grausames. Die meisten … sprechen von etwas anderem.“
Ein Bild von zwei Menschen, die sich liebevoll umarmen.
„Die Liebenden von Pompeji“, sagt Frau Pistara. „Wir kennen die Namen dieser beiden Männer nicht. Wir wissen nicht, was sie beruflich gemacht oder wo sie gewohnt haben … Aber dieses Bild erzählt uns, dass sie sich in den letzten Momenten ihres Lebens innig geliebt haben.“
Ich starre die beiden Männer an und versuche, nicht zu viel zu fühlen. Is das Letzte, was ich will, in einem
Klassenzimmer Rotz und Wasser zu flennen wie ein
Baby. Zwei Reihen vor mir schluchzt Karan. Frau Pistara reicht ihm ein Taschentuch und er schnäuzt sich lautstark. Für Karan ist das okay. Er ist der größte Vierzehnjährige der Welt. Da kann er auch mal heulen.
Die Bilder laufen weiter. Ein Kind, das aussieht, als würde es schlafen. Ein Junge, der auf dem Boden sitzt, die Ellenbogen auf die Knie gestützt, als würde er auf seine Mama warten, die bloß kurz bei Edeka is. Und dann: brüllendes Gelächter. Es zerreißt die Stille, als wäre auch hier im Medienraum ein Vulkan explodiert.
Vor uns auf der Leinwand ist ein Mann zu sehen, der auf dem Rücken liegt – und ganz klar eine Hand zwischen den Beinen hat. In einer ziemlich eindeutigen Haltung. Ich mein, echt jetzt – das is nix, wobei du erwischt werden willst. Und ganz sicher nichts, was du nach zweitausend Jahren der Nachwelt präsentieren willst. Der
von Pompeji! Oh Mann. Aber wir würden nicht so laut lachen, wenn es uns vorher nicht so mitgenommen hätte. Die ganzen anderen Momente, die der Vulkan für alle Ewigkeit festgehalten hat. Diese Leute sind alle nicht gefragt worden, ob das der Augenblick ist, der für immer bleiben soll. Sie haben ihn sich nicht aussuchen dürfen, ihren Vulkanmoment …
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