Unser Hausmeister beugt sich zur Halbach, die am Kopfende sitzt. Sie wirkt noch ein bisschen verschlafen. Unsere Direktorin ist kein Morgenmensch. Sie runzelt die Stirn, als Ahmet Armut ihr etwas ins Ohr sagt, fragt ihn was. Er zieht eine Augenbraue hoch. Eigentlich braucht die Halbach sich danach nicht mehr zu räuspern, alle Internatsschüler schauen sie neugierig an. Wir wollen wissen, was er ihr gesagt hat,
.
„Ich höre gerade, dass unser Rasenmäher verschwunden ist“, sagt sie säuerlich. „Wenn einer von euch ihn genommen hat und euch irgendwo das Benzin ausgegangen ist, dann sagt uns bitte jetzt, wo, damit Herr Armut ihn zurückholen kann …“
Schweigen und fragende Blicke in die Runde. Dr. Mergen kommt wie immer zu spät zum Frühstück, was ihm wie immer ein Kopfschütteln von der Geschichtslehrerin einbringt. Zeit ist Frau Pistaras Ding. Sie hat mal gesagt, das ist die große
Tragödie von allen Historikern: dass sie immer für alles Wichtige zu spät dran sind.
„Also, das ist doch lächerlich!“ Die Halbach ist jetzt ganz wach und ganz furchtbar
. „Wir wissen, dass es einer von euch war. Der Rasenmäher ist zwischen neunzehn Uhr abends und sieben Uhr morgens verschwunden. Ihr wisst, da ist hier oben keiner außer uns … Also: Wer war es?“
Keine Antwort. Dante und ich wechseln einen besorgten Blick. Was sie nicht kapiert: Erstens würde keiner von uns Internatsschülern einen der anderen verraten. Zweitens ist diese Nachricht für uns schlimmer als für sie. Das ist nicht einfach irgendein
Rasenmäher, der da verschwunden ist. Das ist Mo. Mo ist ein Aufsitzrasenmäher, der aussieht wie ein zu klein geratener Traktor und sich anhört wie ein
Helikopter, der gerade landet. Alle lieben Mo. Mo hat aufgeklebte Flammenzungen auf der Motorhaube …
Wenn man in Saaks flucht und es einer von den Lehrern hört, dann muss man 50 Cent Strafe zahlen. Oder eine halbe Stunde Haushaltsdienst machen. Ich hab keine Kohle, nie. Woher auch? Also ist es bei mir immer Haushaltsdienst. Bei Louisa in der Küche Kartoffeln schälen, Geschirrspüler ausräumen, Stühle stapeln, Turnmatten auslegen … so
halt. Wenn ich großes Glück hab, komm ich mit Rasenmähen davon. Und das ist einfach das Geilste. Ahmet Armut hat Mo nämlich frisiert. Das is jetzt wie Quadfahren. Am Seeufer entlang, durch die Bergwiesen mit den meterhohen Blumen und Kräutern bis rauf ins Gelände, wo der Fels anfängt. Einfach
genial! Ich will nicht, dass Mo weg ist. Keiner will, dass Mo weg ist.
„Wer ist denn zuletzt gefahren?“, fragt die Halbach Ahmet Armut.
Er runzelt die Stirn. „Muss ich nachsehen“, knurrt er.
Muss er nicht. Ich bin zuletzt gefahren und das weiß er auch. Von vier bis sechs Uhr nachmittags. Weil ich in Englisch dreimal
und einmal
gesagt hab. Ich mache den Mund auf, um es der Halbach zu sagen. Ich mein – ich hab schließlich nichts zu verbergen. Da kriege ich wieder einen Blick von Dante ab. Diesmal sieht mich auch der schweigende Riese neben ihm an: Karan. Beide schütteln den Kopf. Ich mach den Mund wieder zu. Dabei hab ich keine
Ahnung, warum.
Es läutet und die Halbach seufzt. „Na gut. Dann setzen wir das heute beim Abendessen fort.“
Gleichzeitig mit dem Läuten sehe ich schon durch das Panoramafenster die voll besetzte Gondel hochfahren. In fünf Minuten wird sie die Schüler aus dem Tal ausspucken und in weiteren zehn geht der Unterricht los.
Als alle aufstehen, räuspert sich Dr. Mergen, der gerade erst damit fertig geworden ist, sein Vollkornbrot kunstvoll zu belegen. Unser Schul-Psycho-Onkel muss nicht laut werden wie die Halbach, damit ihm wer zuhört. Er sagt nie viel, aber was er sagt, willst du hören. Macht einen Unterschied, immer.
„Wenn ich einen Vorschlag machen dürfte?“ Er sieht nicht mal auf, so sicher ist er, dass wir zuhören. „Möglicherweise taucht Mo ja vor dem Abendessen wieder auf. Der Benzinkanister steht im Schuppen …?“
Ahmet Armut nickt. „Der rote, links im Regal.“
„In dem Fall müssten wir uns mit der Sache gar nicht mehr beschäftigen, oder?“
Die Halbach sieht ihn ungläubig an. „Jemand hat den Rasenmäher unerlaubt entwendet! In der Schulordnung steht ganz klar, dass ein Schüler, der Schuleigentum entwendet oder mutwillig zerstört, der Schule verwiesen wird. Das ist kein dummer Streich, das ist ernst.“
Jetzt blickt Dr. Mergen auf und die Halbach an. „Schon möglich. Nur – wenn der Rasenmäher wieder da ist, ist er nicht mehr entwendet – und damit gibt es auch keinen Grund, irgendjemanden der Schule zu verweisen, oder?“
„Trotzdem muss so ein Vergehen bestraft werden!“
Dr. Mergen seufzt. „Natürlich. Auch das Kennedy-Attentat müsste bestraft werden. Da bedauerlicherweise unsere Chancen herauszufinden, wer Mo über Nacht falsch geparkt hat, ähnlich hoch stehen, wie die, den Präsidenten-Mörder zu fassen, schlage ich vor, wir belassen es dabei, dass wir uns freuen, wenn Mo wieder auftauchen sollte. Einverstanden?“
Ich sehe meine Mathelehrerin Frau Edmund-Horbarth, den Sportlehrer und die Geschichtslehrerin Frau Pistara grinsen. Die Halbach grinst nicht. Aber Dr. Mergen hat irgendwas
Psychologisches gemacht, so viel steht fest. Weil sie widerspricht nicht mehr.
Ich esse den letzten Bissen von meinem Croissant und folge den anderen aus dem Saal. Doch bevor ich aus der Tür gehen kann, tritt Ahmet Armut neben mich. Er bewegt nicht mal die Lippen, als er sagt:
„Vor sieben, kapiert?“
Damit geht er davon. Mit diesem Gang, als hätte er immer noch eine Uniform an wie auf dem Foto in Dantes Schülerakte.
„So ernst hab ich ihn bisher nur einmal gesehen“, sagt Dante in dem Moment. Er rollt neben mich und starrt genau wie ich Ahmet hinterher. „Als du ihm diesen Zettel gegeben hast, damit er uns vom Gelände lässt.“ Dante sieht mich durchdringend an. Seine Augen sind gewitterwolkengrau, so kurz vor Blitzeinschlag.
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