Wenn du mit der Gondel von Saaks aus hochfährst zum Internat, dann sieht es aus wie der
schönste Ort der Welt. Ich mein – es ist gigantisch. Schon der mittlere Teil allein ist so groß wie ein
Schloss. Und dann kommen noch die Flügel dazu. Als wenn das Gebäude jederzeit abheben könnte, wenn es keinen Bock mehr hat, auf ’ner
Bergspitze zu hocken. Als könnte es jederzeit mit den Störchen nach
Afrika fliegen.
Von der anderen Seite ist es genauso schön. Da, wo die Berge sind und der See mit den Weiden am Ufer. Nur steht auf der Innenseite noch ein Gerüst an der Fassade. Die ganzen geschnitzten Holzbalkone und Balken müssen neu gestrichen werden. Die Halbach sagt, dafür muss das Wetter stimmen. Im zweiten Stock renovieren sie auch innen. Hier hängen überall Plastikfolien von der Decke. Die Steckdosen sind bloße Löcher im Putz und die Handwerker haben alles stehen lassen, als wenn sie ein wilder Stier vertrieben hätte. Kabelboxen, Werkzeugkoffer, Leitern, Styroporplatten … Kann sein, dass sie Angst vor dem Geist hier oben gehabt haben. Is mir am Anfang nicht anders gegangen. Ich mein – alle im Internat haben gesagt, dass es unterm Dach spukt. Und dann mach ich in der ersten Nacht das Licht aus und es fängt an zu rascheln und zu knattern. Nicht
funny, Mann!
Inzwischen haben wir uns kennengelernt, der Geist und ich. Ich weiß sogar, welche Art Geist es ist. Ich hab graue Nagetiere gegoogelt, die aussehen wie Eulen mit Mäuseohren und Eichhörnchenschwänzen … Geist ist ein Siebenschläfer. Und zwar ein Weibchen. Sie frisst am liebsten süße Krümel. Schokolade mögen wir beide nicht so gern. Alles, wo Nüsse drin sind, gehört ganz ihr, weil ich ’ne Nussallergie hab. Die Kabel darf sie auch alleine anknabbern. Damit wenigstens meine Nachttischlampe und mein Handykabel heil bleiben, hab ich ihr einfach zwei Kabeltrommeln besorgt. Natürlich kommt sie nicht, wenn ich sie rufe, sondern nur dann, wenn es ihr gerade passt. Ich hätt auch keinen Respekt vor ihr, wenn’s anders wär. Manchmal ertappe ich sie dabei, wie sie mich beobachtet. Find ich okay. Sie is auch so eine, die immer Wache hält.
Ich glaube, sie findet den Unterricht in Saaks gut. Zumindest gefällt ihr die Zeit, wo sie das Zimmer für sich hat. Ich finde am Nachmittag immer ihre Köttel-Bohnen. Weil ich nicht will, dass die einen
Kammerjäger holen, der Geist abmurkst, mach ich die Bohnen selbst weg. Keine Sorge – mit Gummihandschuhen aus der Küche. Köchin Louisa hat zwar komisch geguckt, als ich die haben wollte, aber ihr Sohn Lucky trägt in letzter Zeit öfter mal Vampirzähne aus Plastik ohne erkennbaren Grund. Louisa weiß, dass man mit Fragen nicht immer weiterkommt.
Lucky sitzt bei jeder Mahlzeit im großen Saal neben mir. Das ist schon seit dem ersten Tag so. Wahrscheinlich, weil er beschlossen hat, dass wir mal heiraten werden. Er steht auf ältere Mädchen – Lucky ist nämlich erst sechs.
Auch bei diesem Frühstück hat er wieder seine
Vampirzähne drin, was ich ehrlich eklig finde. Ich mein – die ganze Zeit Plastik im Maul ist ja nicht grad appetitlich. Zum Frühstück gibt’s ein Büffet, das garantiert nicht viel anders ausgesehen hat, als das Internat noch ein Hotel war. Hier gibt’s Früchte, von denen ich noch nie gehört hab. So viele Brot- und Brötchensorten, dass du gar keine Zeit hast, dir alle anzugucken, ohne dass du den Unterricht verpasst. Wurst, Käse, Schinken, Lachs, tausend Müsliarten … Da liegt sogar jeden Morgen eine
Honigwabe. Fehlt nur, dass die Bienchen sie dir höchstpersönlich in den Mund fliegen. Und was isst Lucky? Haferflocken mit Milch und Rosinen! Weil er mit den
Vampirzähnen nicht kauen kann!
„Wie scheck’n dasch Kroschang?“, nuschelt er und beäugt dabei neidisch mein Croissant mit Marmelade aus den Augenwinkeln.
„L-l-lucky, d-d-du
!“, ruft Omar, der uns gegenübersitzt. Und Yeganeh neben Omar fängt an, wie wild mit den Händen zu fuchteln.
„Weisch du, wasch schie schagt?“, fragt Lucky, der sie überrascht ansieht.
„Keine Ahnung“, geb ich zu. „Ich kann auch keine Gebärdensprache. Aber sie hat Flocken von deinem Müsli in den Augenbrauen …“
„N-n-nimm diese
zähne e-e-endlich raus!“, faucht Omar Lucky an. „Oder hör a-a-auf zu reden. W-w-wir haben kein’ B-b-bock, d-d-dauernd d-d-dein Essen ins G-g-gesicht zu kriegen!“
„Hey!“, rufe ich und stehe halb auf. „Er hat’s nicht mit Absicht gemacht.“
„Nisch mit Abschisch“, stimmt Lucky zu – und spuckt Omar dabei eine Rosine ins Auge.
Der springt auf – eine hundertstel Sekunde vor Lucky – und jagt ihm hinterher. Ich setz mich wieder hin und mach mir keine übertriebenen Sorgen. Lucky ist schnell. Und er kennt das Internat besser als jeder andere. Wenn der sich versteckt, findet ihn in hundert Jahren keiner.
Rund um den Tisch brandet Lachen auf. Ich ertappe mich dabei, wie ich schnell zu Dante rübergucke. Dante lachen zu sehen, ist einfach ein Anblick. Wie ein
Sonnenauf- oder -untergang. Sorry, aber da guckst du auch hin, jedes Mal. Und wenn’s der tausendste ist. Seine Zähne sind so weiß und so perfekt geformt, als hätte sich einer hingesetzt und ein paar Wochen dran rumgeschliffen und gefeilt. Er merkt, dass ich ihn ansehe, und zuckt mit den Schultern. Sofort spüre ich, wie meine Ohren meine Gesichtshaut zu sich ziehen. Ein bisschen, als wär mein Lachen das Echo von Dantes. Deshalb übersehe ich fast, dass Ahmet Armut in den großen Saal kommt. Er wirkt nicht sauer und trotzdem weiß ich, dass er’s ist. Jeder Muskel unter seinen ganzen Tätowierungen ist angespannt. Er ist auch ein bisschen wie so ’ne Klotür. Ist ein
Kopf-an-Kopf-Rennen, wenn’s drum geht, auf wem sich mehr Leute verewigt haben. Nur die Narben dazwischen hat er sich wohl nicht ausgesucht. Es sind fast so viele wie Tätowierungen. Darüber baumelt eine Krawatte auf nackter Haut. Ahmet Armut hat seinem Vater mal versprochen, dass er einen Beruf ausüben würde, bei dem er eine Krawatte trägt.
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