Dabei solltest du hören, wie die Halbach mit Dante redet! Ich mein, der is zwölf und sie ist die
Leiterin von Saaks! Es liegt auch nicht nur daran, dass Dante so ist, wie er ist. Ja, er ist
schön und die Leute starren ihn an. Und seine Stimme klingt, als würde er seit zwanzig Jahren saufen und rauchen. Rau und trotzdem samtig. Wie die Wildlederjacke von deiner Mama. Aber das isses nicht. Hat auch null damit zu tun, dass er im Rollstuhl sitzt. Keiner hat Mitleid mit Dante Dahlem. Um Mitleid zu haben, musst du dich größer fühlen als der andere. Niemand fühlt sich größer als Dante. Es liegt auch nicht daran, dass er mehr sieht und hört und mitkriegt als andere. So was kriegt die Halbach nämlich nicht mit. Dafür sieht und hört sie selbst nicht genug. Es ist was anderes.
Weißt du noch – Rene? In Berlin? Das ganze Schuljahr haben wir uns gefragt, warum die Lehrer mit ihm reden, als wenn
ersupersmart wär. Oder total megareich. Als könnte er was für sie tun. Oder ihnen was tun. Und dann stellt sich raus, dass Renes Mama fürs
Bildungsministerium arbeitet. Die haben nie wirklich mit Rene geredet, die ganzen Lehrer und der Direktor. Die haben durch ihn durch mit seiner Mutter geredet. So ähnlich ist es mit Dante. Aber ich weiß nicht, mit wem sie durch ihn durch reden. Und er weiß es auch nicht.
Das ist einer der Gründe, warum ich ihn hassen wollte, als ich ihn zum ersten Mal gesehen hab. Weil da dieses Gefühl war: dass nicht ich ihm begegne, sondern er mir. Dass es seine Geschichte ist und ich nur ein Teil davon bin. Vielleicht nicht mal ein ganzes
Kapitel. Ich mag dieses
Gefühl nicht. Bisher hab ich’s nur von der anderen Seite gekannt.
Im ersten Heim, in dem ich war, hab ich in einem Stockbett geschlafen. Und unten war Tasha. War keine Entscheidung, dass sie unten liegt, sondern pure Physik. Sie war zehn Jahre alt und siebzig Kilo schwer. Immer, wenn wer glaubt, Dicksein hat mit Essen zu tun, denk ich an Tasha. Das war kein Fett, das sie mit sich rumgetragen hat. Das waren ganz andere Sachen. Alle
grausamen Witze. Jedes Kichern hinter ihrem Rücken. Die Blicke … Und das, was als Erstes passiert ist, der Auslöser. Als sie noch klein war. Das, was zu groß und zu viel war, um es zu verdauen. Was auch immer es war.
Eigentlich hat sie Natasha geheißen. Die anderen haben Wal-Tasha zu ihr gesagt. Sie hat geschnarcht, deshalb wollte keiner mit ihr im Zimmer schlafen. Aber ich war ja neu. Wenn du neu bist, hast du gar nix zu melden. Also lieg ich über ihr im Stockbett, starr an die Decke, versuch, möglichst leise zu sein beim Weinen … und hör sie unten schwer atmen. Das is gut. Ich bin froh, dass sie da ist. Aus zwei Gründen. Erstens ist keiner gern nachts allein an einem fremden Ort. Kannst du mir erzählen, was du willst. Schlafen ist immer Vertrauenssache. Ich mein –
! – du gibst dein
Bewusstsein an der Garderobe ab! Kann jeder alles mit dir machen, wenn du die Augen zumachst und loslässt. Wenn du sie wieder aufmachst, kann alles passiert sein. Die ganze
Welt kann eine andere sein.
Zweitens gibt es immer und überall Rollen zu verteilen. Genau wie in einem
Theaterstück. Wenn du neu bist und klein, hast du extrem gute Chancen, dass du die Rolle „ultimativer Loser“ abgreifst. Ich mein – irgendwer muss es sein. Nur: Wenn’s ein Mädchen gibt, das Wal-Tasha heißt … Sorry, aber dann is die Rolle besetzt. Eine Sorge weniger für dich. Deshalb war’s auch nicht Mitleid, sondern Dankbarkeit, dass ich’s gemacht hab. In der ersten Nacht, da hab ich irgendwann leise gesagt:
„Gute Nacht, Tasha.“
Nicht Natasha. Weil du weißt nie, wen der Name ruft. Hier im Heim, da war sie Tasha. Aber ich hab eben auch nicht Wal-Tasha gesagt. Vielleicht ging’s vor allem darum, dass ich überhaupt was zu ihr gesagt hab?
Kurz war das Geräusch von ihrem Atem weg. Entweder sie hat gar nicht geschlafen oder sie hat auch nie wirklich tief und fest geschlafen. Nie ganz drauf vertraut, dass die Welt noch da is, wenn sie wieder aufwacht. Gesagt hat sie nichts.
Am nächsten Morgen war klar, dass sie’s gehört hat. Beim Frühstück war’s klar. Da stellt mir so’n Voll
das Bein und ich klatsch der Länge nach hin, mitsamt dem Tablett voll Frühstücks
. Ich hör ein Rauschen in den Ohren, seh alles wie durch rote Brillengläser … und dreh mich auf den Rücken, um zu sehen, wer’s war. Aber da brüllt der
schon wie irre und blutet aus’m Rüssel. Wie’n
Springbrunnen, Mann! Und die Nase hat so’n Knick in der Mitte. Dann setzt die Kettenreaktion ein: Der Typ neben dem
kotzt unter’n Tisch. Ich mein – auch wenn du kein Problem mit Blut hast – is doch was anderes, wenn’s in dein
Müsli spritzt. Danach springen andere auf und rennen raus. Die Betreuerinnen kommen angerauscht. Und mittendrin, die
Ruhe in Person: Tasha.
Ich hab nicht gesehen, wie sie dem blöden Typ eins verpasst hat. Sie steht plötzlich über mir wie ein Schatten. Ein gigantischer, brutaler, treuer Schatten. Und streckt mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ich hab’s nicht mit Absicht gemacht; es war kein Plan dahinter, aber von da an war Tasha mein Bodyguard. Vier Monate lang. In der Zeit will sie nicht ein Mal irgendwas oder schlägt was vor oder bittet mich um was. Sie is einfach da, macht das, wofür ich zu klein, zu leicht, zu schwach bin. Als Ehrenmitglied im Team Enni, als Soldatin in meiner Armee. Tasha hat mir ihre Geschichte nie erzählt. Sie ist einfach Teil von meiner geworden.
So fühlt es sich an mit Dante. Und mit Saaks. Ich bin nur Teil ihrer Geschichte, nur einer von den vielen Namen, die hier innen an den Klotüren stehen und die nicht mehr abgehen: „Enni war hier!“.
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