Ich taumelte auf unser Haus zu. In diesem Augenblick öffnete sich die Haustür, und meine Frau trat mir entgegen. Sie sah mich an, als wäre ich ein Gespenst. Sie glaubte, ich wäre draußen in Radebeul.
Wir fielen uns in die Arme. Die Nachbarn und der Vater meiner Frau hatten begonnen, die Möbel aus dem Haus zu schaffen und auf die Straße zu stellen. Zwei alte Luftschutzwarte kamen und sagten:
»Ja, auch unser Haus brennt!«
»Was denn? Ich sehe doch nichts!«, antwortete ich.
»Oben auf dem Boden!«
Ich bin hinaufgerast. Tatsächlich hatte das Feuer vom Nebenhaus auf unseren Dachstuhl übergegriffen. Aber es brannte nur in einer Ecke. Ich habe in die Flammen hineingeworfen, was ich zu fassen bekam, Sand und alte Decken. Nach einer Viertelstunde war das Feuer erstickt. Das Haus Münchner Platz 16 steht heute noch.
Am nächsten Tag kam der nächste Angriff. Es war um die Mittagszeit. Diesmal gab’s nur Sprengbomben. Wir hatten immer noch nichts von meinem alten Vater gehört. Wir wußten nicht, ob mein Elternhaus in der Struvestraße überhaupt noch stand. Wir gingen hin, als die Sirenen Entwarnung gaben.
Das Haus war ein Trümmerhaufen. Wir fragten nach meinem Vater. Ja, man hatte ihn gesehen, aber er sei dann verschwunden …
Vater war tot, das schien mir sicher. Wie sollte ein siebenundachtzigjähriger Mann aus dieser Hölle entkommen sein?
Fünf Tage lang brannte Dresden. Dennoch benahmen wir uns, als wäre alles fast wieder normal. Wir waren gehorsame Bürger des Chaos, zogen zu unseren Schwiegereltern am Stadtrand um, hatten unseren Stephan wieder. Ich fuhr jeden Tag mit dem Rad zur Firma nach Radebeul und zurück. Ich mußte immer an Vater denken. Jeden Tag habe ich bei der Rückkehr gefragt: »Habt ihr etwas von Vater gehört?« Nichts.
Drei Tage waren vergangen, da radelte ich wieder nach Hause. Mich überkam ein ganz seltsames Gefühl. Während ich in die Pedalen stampfte, sprach in mir eine Stimme im Rhythmus des Tretens: »Der Vater lebt – der Vater lebt – der Vater lebt.«
Da kommt mir schon meine Frau entgegen. »Helmut …«, schreit sie. Ich werfe das Rad weg und rufe: »Du brauchst mir gar nichts zu sagen: Der Vater lebt!«
»Ja …« Wir haben zusammen geweint. Ich weiß nicht, woher ich meine Gewißheit hatte.
Ich ging in die Wohnung hinein. Da saß er. Er hatte rote Augen. Sie waren ganz entzündet von dem vielen Feuer, das er gesehen hatte und durch dessen Hitze er gegangen war.
Meiner Frau hatte er inzwischen seine Geschichte erzählt: »Du weißt ja, daß Vater nie geglaubt hat, die Engländer würden Dresden bombardieren. Darum ist er beim Alarm auch im Bett geblieben. Dann schlug es in der Nähe ein, und ein brennendes Fensterkreuz fiel Vater auf die Bettdecke, aufs Gesicht. Du siehst ja, er hat die Schramme da … Dann ist er doch raus und runter in den Keller. Aber als die erste Entwarnung kam, ist er losgelaufen, in Richtung Bürgerwiese. Da hat er seinen Ehering vergraben, unter einem Baum im Großen Garten. Warum, weiß ich nicht.
Er muß dann Tag und Nacht durch Dresden geirrt sein.
›Ich bin über die heißen Steine gelaufen‹, hat er erzählt. ›Über die heißen Steine, in die Hofkirche …‹ Auch die Hofkirche war schwer beschädigt. Dort hat er wohl, mitten im Inferno, gesessen und gebetet.
Das Furchtbarste, was er sagte, war: ›Überall waren Neger! Tote Neger! So viele tote Neger …‹ Er meinte die schwarzverkohlten Leichen. Er war sehr verwirrt.
An einem Vormittag haben ihn Bekannte dann irgendwo in der Innenstadt gefunden. Er saß auf einem Bordstein und starrte vor sich hin.«
Meine Frau schluchzte. Wir waren gerettet. Aber mindestens 135.000 Menschen lagen tot überall auf Dresdens Straßen. Als keine Bomber mehr kamen, ging ich in die Innenstadt. Die berühmte Prager Straße war abgesperrt. Ich traf dort einen Bekannten, einen Hauptmann in Uniform. Der stand da wie gebrochen. Er sagte: »Helmut, ich muß jetzt wieder hier rein. Aber ich kann nicht mehr. Und ich muß trotzdem den Leuten sagen: Ihr müßt!«
Sie trugen die Leichen zusammen und schleppten sie zum Altmarkt. Dort, wo die Kreuzkirche stand, wo der Kreuzchor gesungen hat, wurden an die 30.000 Leichen gestapelt und dann mit Flammenwerfern vernichtet. An gigantische Zahlen waren wir gewöhnt, auch was die Opfer des eigenen Landes betraf. Das war abstrakt. Jetzt konnte man die Wirklichkeit sehen: 30.000 einzelne, fürchterlich umgekommene Menschen.
Ich ging nach Hause. Es war regnerisch. Überall sah der graue Vorfrühlingshimmel durch die ausgebrannten Fassaden, die leeren Fenster. […]
Ein paar Monate später, der Krieg war aus, die Russen waren da, geschah etwas, was mich bis heute tief bewegt und mir wie ein Zeichen erscheint. Der Flieder blühte in der Bürgerwiese so schön wie lange nicht, es war Sommer. Vater ging eines Tages in den Anlagen spazieren. Im Großen Garten hat er zielsicher an einer bestimmten Stelle mit dem Spazierstock im Boden gestochert. Es glänzte – da lag sein Ehering.
Er hat ihn sich wieder angesteckt. Er hatte sich selbst wieder – die Hoffnung, daß es doch noch etwas Schönes auf der Welt gab.
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