Schön hatte, wie er selbst bekannte, »nicht das Zeug zum Helden«: »Ich wollte nicht zu denen gehören, deren Namen jetzt, mit einem Eisernen Kreuz verziert, Seiten um Seiten der Zeitungen füllten«, in den Todesanzeigen nämlich. Im Oktober 1944 wurde er dann doch noch eingezogen, als Grenadier zur motorisierten Artillerie in Chemnitz; dort lernte er »so nützliche Dinge wie Autofahren und den Deutschen Gruß im Vorbeigehen am Vorgesetzten«. Allerdings, so Schön, habe sein Arbeitgeber Madaus nach drei Wochen seine Freistellung erwirkt, denn er hätte den Versand lebenswichtiger Medikamente zu organisieren. Fortan beschränkten sich seine militärischen Aktivitäten darauf, manches Mal als »Luftschutzleiter« die Nacht über im Radebeuler Werk zu bleiben.
Mittlerweile war Sohn Stephan geboren worden, die junge Familie wohnte noch immer am Münchner Platz 16. Von den ersten Luftangriffen im Herbst 1944 blieb das Gebäude verschont. Und glücklicherweise überstand es auch die Nacht vom 13. auf den 14. Februar 1945, als schwere Bomberangriffe und ein anschließender Feuersturm nahezu das gesamte alte Dresden auslöschten. Fast 25.000 Menschen starben, die meisten verbrannten oder erstickten in ihren Häusern und Luftschutzkellern. Die Wohnung in der Struvestraße, in der Helmut Schön aufgewachsen war, existierte nicht mehr; die ganze Struvestraße existierte nicht mehr, ebenso fast die gesamte Altstadt. Stark betroffen war auch der Stadtteil Südvorstadt, zu dem der Münchner Platz gehörte, doch Annelies, Helmut und Stephan Schön hatten Glück: Sie selbst und ihre Wohnung blieben unversehrt. Im folgenden Exkurs wird ausführlicher davon berichtet.
Auch Schöns Vater und Annelies’ Eltern überlebten das Inferno; sie blieben nach dem Krieg in Dresden wohnen. Anton Schön lebte dort bis zu seinem Tod 1949, als fast 92-Jähriger. Enkel Stephan erinnert sich: »Ich habe mit ihm noch ein paar schöne Spaziergänge gemacht und durfte dabei seinen Spazierstock hinter mir herziehen.«
Das Kunst- und Antiquitätengeschäft, das bei den Luftangriffen ebenfalls stark zerstört worden war, übernahm der ältere Sohn, Helmuts Bruder Walter. Er übersiedelte nach dem Tod des Vaters nach Düsseldorf, wo er das Geschäft weiterführte. Walter Schön starb 1982.
Auch Helmut Schöns Schwester Helene überstand den Krieg. Sie arbeitete danach als Sekretärin eines Physikinstituts in Dresden, später in der Akademie der Wissenschaften in Berlin-Adlershof. Als Rentnerin übersiedelte sie Anfang der siebziger Jahre nach Wiesbaden in die Nähe von Helmuts Familie. Helene Schön starb im Jahr 1987.
Das Ostragehege hatte den alliierten Bomberpiloten als Orientierungspunkt beim Anflug auf die Innenstadt gedient. Das Stadion wurde getroffen, aber nicht zerstört. Die Steintribüne war lädiert, das Spielfeld eine Kraterlandschaft, die Holztribüne von mehreren Brandbomben durchschlagen; in den kommenden strengen Wintern würde sie manchem Anwohner als Brennholz-Ressource dienen. »Hier kann kein Fußball mehr gespielt werden«, dachte damals Helmut Schön, als er die schweren Beschädigungen betrachtete. Doch der Fußball kam schneller zurück als gedacht.
Die sowjetischen Truppen besetzten Dresden am 8. Mai 1945, am gleichen Tag, an dem Nazi-Deutschland endgültig kapitulierte. Schon wenige Wochen später ordnete der sowjetische Stadtkommandant, Oberst Gorochow, ein offizielles Fußballspiel an: Auswahlmannschaften der Altstadt und der Neustadt sollten am 17. Juni gegeneinander spielen. Die vier »Zivilisten« des alten DSC, Schön, Hofmann, Hempel und Pohl, traten an für eine »Altstadt«, die es nicht mehr gab.
EXKURS
Helmut Schön und der Untergang des alten Dresden
»Es war geradezu ein schwebendes Stadtgebilde, eine prachtvolle Komposition vor allem des Barock und Rokoko, aber auch klassizistischer Bauten und der Konstruktionsformen des industriellen Zeitalters, alles miteinander versöhnt und verbunden in einem Stadt-Organismus aus Kirchen und Palästen, Brücken und Terrassen, Parks und Alleen, Gassen und Gärten, ein Gemeinwesen voll alter Kunst und neuem Leben, wie man es sich harmonischer nicht denken konnte.«
So elegisch beschrieb Helmut Schön in seiner Autobiografie ein Stadtbild, das nur noch Erinnerung war.
In den Tagen und Nächten des 13., 14. und 15. Februar 1945 wurde Dresden das Ziel verheerender Bombenangriffe durch britische und US-amerikanische Flugzeuge. Diese Form brutaler Kriegsführung hatte erstmals die deutsche Luftwaffe im spanischen Bürgerkrieg praktiziert; berüchtigt wurde der verheerende Angriff der »Legion Condor« auf die baskische Stadt Guernica am 26. April 1937. Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs bombardierte die deutsche Luftwaffe zunächst Städte vor allem in Polen, den Niederlanden und England, bevor alliierte Bomber den Horror nach Deutschland zurückbrachten. 1940 wurden die ersten deutschen Städte angegriffen, in den Jahren 1942 und 1943 folgten die großen Flächenbombardements, bei denen die Innenstädte unter anderem von Hamburg, Köln und Hannover nahezu vollständig zerstört wurden. Zehntausende starben.
Dresden blieb lange verschont; bis zum Herbst 1944 lag die Region außerhalb der Reichweite alliierter Bomber. In den Straßen der Innenstadt drängten sich durchziehende Menschen, hier trafen sich die Pferdefuhrwerke der westwärts strebenden Flüchtlingstrecks mit Infanteriekolonnen und dem Nachschub für die Ostfront. Als Verkehrsknotenpunkt und letzte intakte Garnisonsstadt musste Dresden mit Luftangriffen rechnen; doch das Inferno, das am 13. Februar 1945 folgte, übertraf die schlimmsten Befürchtungen.
Helmut Schön erlebte und überlebte den Feuersturm. In seiner Autobiografie hat er eindringlich von seinen Erlebnissen berichtet; Auszüge aus dieser Schilderung werden im Folgenden abgedruckt. Die Zahl von 135.000 Toten, die Schön darin nannte, entsprach dem Wissensstand zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung (1978); teilweise kursierten noch erheblich höhere Opferzahlen. Die neuere Forschung hat ermittelt, dass diese Angaben auf übertriebenen Meldungen der nationalsozialistischen Propaganda beruhten. Eine von der Stadt Dresden berufene Historikerkommission kam nach langwierigen Ermittlungen zu dem Ergebnis, dass durch die Luftangriffe zwischen 18.000 und 25.000 Menschen starben. Doch auch dies ist eine entsetzlich hohe Zahl.
Helmut Schön hat nichts darüber geschrieben, in welcher Weise ihn die Erlebnisse in seinem späteren Leben innerlich verfolgt haben. Doch dass sie ihn nur schwer losließen, dessen ist man sich sicher, wenn man seinen Bericht gelesen hat.
An diesem 13. Februar hatte ich als »Luftschutzleiter« meiner Firma in Radebeul Dienst. Jeder kam mal ran. Ich mußte also die Nacht im Werk verbringen, konnte nicht zu meiner Frau nach Dresden hinein.
Wir hörten in einem Kellerraum der Firma den sogenannten Drahtfunk. Er meldete: »Schwere angloamerikanische Bomberverbände im Anflug auf Nürnberg und Leipzig«. Dann wurden Planquadrate durchgegeben, in denen sich die Bomber befanden. Viele Deutsche hatten sich damals eine Landkarte mit diesen Planquadraten organisiert, um jede Nacht genau zu wissen: Kommen wir diesmal ran? Wann geht es wieder los mit dem Alarm? Der Drahtfunk war auf Langwelle leicht abzuhören.
»Wetten, diesmal erwischt es uns«, sagte einer der Kollegen.
»Na, die biegen doch noch ab«, meinte ein anderer.
»Die Richtung ist so verdächtig … Vielleicht kommt heute Nacht Leipzig dran. Aber wahrscheinlich wollen die bis rauf nach Berlin«, meinte ich. »Es sieht trotzdem mulmig aus. Hoffentlich lassen nicht so ein paar Idioten aus lauter Nervosität bei uns was fallen. Ich werde mal lieber meine Frau anrufen.«
Ich telefonierte mit Annelies. Sie hörte ebenfalls Drahtfunk. »Hört sich ganz schön blöd an, was? Die größte Bomberflotte, die jemals deutsches Reichsgebiet angeflogen hat, haben sie gesagt. Wie gut, daß Stephan draußen bei den Großeltern ist.« Sie wohnten am Stadtrand.
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