Helmut H. Schulz
Briefe aus dem Grand Hotel
Vom 04. November 1989 bis zum 18. März 1990
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Inhaltsverzeichnis
Titel Helmut H. Schulz Briefe aus dem Grand Hotel Vom 04. November 1989 bis zum 18. März 1990 Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
09.10.1989
05.11.1989
11.11.1989
21.11.1989
15.01.1990
16.01.1990
18.01.1990
19.01.1990
20.01.1990
21.01.1990
25.01.1994
27.01.1990
30.01.1990
02.02.1990
03.02.1990
07.02.1990
11.02.1990
14.02.1990
20.02.1990
22.02.1990
24.02.1990
04.03.1990
11.03.1990
13.03.1990
17.03.1990
20.03.1990
Chronik (verfasst 1995)
Impressum neobooks
Seit den achtziger Jahren standen die Forderungen im politischen Raum nach Reisefreiheit und der Versorgung mit Unterhaltungselektronik und Mobilität, also Autos, kurz, nach den Standards westlicher Lebensweise. Die Montagsdemonstrationen zu Leipzig etwa enthielten keine nationalen politischen Forderungen, sonder zielten auf die oben aufgezählten Forderungen. Die Bevölkerung der DDR war kein Staatsvolk, das den Staat trug. Hier erhebt sich die Frage nach dem Einfluss der Persönlichkeit auf den Geschichtsgang. Massen denken nicht, Massen folgen einem spontanen, augenblicklichem Gefühl, aber sie folgen auch einem Instinkt, der sie ungefähr leitet. Im Nachhinein wird, was geschehen ist, als politisch gedeutet und es wurde letzten Endes auch politisch; nach Marx, … wird zur materiellen Gewalt, wenn sie (die Idee) die Massen ergreift. Die reale Lage 1989 ist rasch hereingeholt; die Führungsmacht hatte sich aus der Mitte Europas zurückgezogen, mit der Erklärung der Bukarester Tagung der Warschauer Vertragsstaaten, das Warschauer Bündnis höre auf als Militärbündnis zu existieren (1987), und der Rede Gorbatschows vor der UNO Versammlung, das Zeitalter der Revolutionen sei zu Ende und die Periode friedlicher wirtschaftlicher Zusammenarbeit beginne, war das Ende der Nachkriegsära einberufen. Logischerweise zerfielen die Staatlichen Strukturen.
Die Demonstranten hatten die Zeichen der Zersetzung gut und schneller verstanden als die Funktionsträger, die auf Befehle von oben warteten. Die befreundeten Staaten reagierten auf die Lage, indem sie die Grenzen zum Westen öffneten; die Führung der DDR kam mit der Deklaration von Reisefreiheit zu spät. Was folgte, war der stille oder friedliche Staatsstreich, die Besetzung der Ämter durch Zuruf. Die Kammer füllte sich auf diese Weise zu einem gesetzgeberischen Organ, die Minister ernannten sich selbst, indessen die Gruppe Modrow mit Bonn verhandelte, um den Staat in eine interimistische Konföderation zu überführen.
Das Volk gründete Parteien und Klubs, von allen Aktionen sollte sich die der Sicherung des Aktenbestandes des MfS als die zukunftsträchtigste erweisen, als staatsstiftend und übertragbar, woraus schließlich eine Reihe von Gesetze wurden, die Existenz der Stasiunterlagenbehörde ist bis über 2022 hinaus gesichert, womit selbst noch auf Rechtsstaatlichkeit überprüft werden kann, wer nach 2000 geboren wurde, was einer Groteske gleichkommt.
Eine gewisse Funktion übernahmen die sogenannten Runden Tische. Vorsitz führten schließlich kirchliche, also protestantische Beamte, die wenigstens in den formalen Regeln Bescheid wussten, eine Antragsflut aufriefen und formal erledigten. Die Bürgerrechtsgruppen konnten über den Protest hinaus keine politisch konstruktive Vorstellung des neuen Staates erzeugen. Nachdem die Modrow-Regierung den 18. März 1990 für die Volkskammerwahl vorverlegt hatte, endete die Bürgerrechtsbewegung; die berufenen Minister traten aus der Regierung aus, die ja immerhin gewählt war und somit rechtsstaatlich anerkannt, als die CDU die Mehrheit errungen hatte und eine Renaissance der PDS/SED ausgeblieben war. Nota bene, mit der Gesamtdeutschen Wahl war die Zustimmungserklärung zum Beitrittsakt verbunden; die Bonner Regierung übernahm die im März gewählten Mandatsträger mitsamt den Ministern in den neuen Staat, ohne dass einer gegen diese Prozedur öffentlich auftrat.
Sehr geehrter, lieber Herr Z., geschätzter Verleger,
Ihr Korrespondent ist nicht sicher, ob diese Zeilen noch das Papier wert sind, auf dem sie geschrieben werden, nämlich auf dem Papier eines Ostberliner Nobelhotels, vor wenigen Jahren erbaut, in der, heute müsste ich sagen, Honecker-Ära. Grand Hotel ist ein hübsches Quartier für Valuta-Gäste, zumal für Ihren schwer arbeitenden Berichterstatter. Wohl möglich, dass ein hier beheimateter Bürger der Durchschnittsklasse den Prachtbau mit scheelen Augen ansieht; er wurde nicht für seinesgleichen errichtet. Der Eintritt ist ihm verwehrt. Jedenfalls aber hat Ihr Korrespondent einen vortrefflichen Blick auf die Mauer-Metro-pole mit ihren besonderen Lebensbedingungen. Verleger werfen ihr Geld nicht zum Fenster hinaus; kommen wir also zur Sache.
Bis zur Stunde werden die Leute diesseits und jenseits der Grenze und wir mit ihnen durch Kurzfilme der westlichen Medien über die Lage unterrichtet. Es mag Leute geben, die an den geschnittenen Film glauben wie an geoffenbarte Religion; Ihr Korrespondent gehört nicht zu ihnen. Wir haben noch die empörte Feststellung des Staatschefs im Ohr, von einer beispiellosen Hetze, die gegen die DDR entfacht worden sei, eine Bemerkung aus der - vermutlich letzten - Rede anlässlich des obligatorischen Staatsaktes zum Gründungstag. Dieser Auffassung kann sich Ihr Korrespondent noch weniger anschließen. Wir müssen wohl zustimmen. Die mehr oder minder gewissenhaften Recherchen unserer Kollegen an den TV-Sendern spielen eine wichtige Rolle bei der Unterrichtung der Leute über das sie Angehende, angesichts der dauernden Abwesenheit ihrer eigenen Journaille. Enthüllungen mögen für den Apparat der DDR alles andere als angenehm sein, gleichwohl sind sie keine Hetze. Unser Herr Pleitgen ermahnte denn auch alle zu größter Sorgfalt, weil das Westfernsehen in der DDR die höchste Glaubwürdigkeit genieße. In der Tat steht der Klassenkämpfer hüben wie drüben vor einer neuen Situation; durch die Präsenz und den Einfallsreichtum nimmermüder Neuigkeitenjäger hat er so etwas wie einen Gegenspieler vor sich, dessen Waffen er nie genau einschätzen kann.
Der Abend scheint heute ruhig, nach dem Fackelzug vorgestern und einigen Straßenfesten unter stiller Teilhaberschaft der Polizei. Über die sicherlich abgehörten Telefone, solche Finessen sind heute weltweit üblich und dem Korrespondenten gewohnt wie die tägliche Rasur, hörten wir, dass zu Leipzig die bisher größte Demonstration ablaufe, bei der sich die Streitkräfte überdies maßvoller verhalten sollen, als an den Vortagen. Genaueres wissen wir nicht. Korrespondenten dürfen nicht nach Leipzig hinein. Sie sehen, dass wir so etwas wie den kleinen Belagerungszustand haben, einen, den niemand mehr ausruft, der dennoch besteht. Die Filme aus der Stadt Leipzig sind Videos; fragt sich, wie lange diese Verbindungen noch ungestört bleiben. Im Grand Hotel leben wir also wie in einer belagerten Festung, weniger in Wirklichkeit, als in unserer Einbildung. Die Stimmung ist panisch-gedrückt, man ist bereit zur Flucht, als könnte das Haus jederzeit gesprengt werden, und ist andererseits begierig, Augenzeuge einer Katastrophe zu sein, die sich auch noch über Druckpressen und Schneidetische trefflich zu Geld machen lässt. Die älteren Herrschaften unter uns entsinnen sich noch der Tage des 17. Juni 1953 und halten es nicht für ausgeschlossen, von ihren Fenstern aus einen guten Schnappschuss zu machen, wenn ein russischer Panzer zum Beispiel einen jugendlichen Steinewerfer zu Brei zermalmt, was ein hoch bezahltes Fotodokument ergeben könnte.
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