Deborah Slier
Ian Shine
Der letzte Sommer des Philip Slier
Briefe aus dem Lager Molengoot April – September 1942
Aus dem Niederländischen von
Joanna Best
aus dem Englischen von
Jutta Bretthauer
Saga
Deborah Slier, Ian Shine: Der letzte Sommer des Philip Slier. © 2008 Deborah Slier, Ian Shine. Alle Rechte der deutschen Ausgabe © Osburg Verlag Hamburg [2015] www.osburg-verlag.de. Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen 2016 All rights reserved.
ISBN: 9788711449486
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
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Gewidmet allen Opfern von Völkermord
Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.
(3. Mose 19,18)
Du sollst nicht folgen der Menge zum Bösen.
(2. Mose 23,2)
Errette die, so man töten will,
und entziehe dich nicht von denen,
die man würgen will.
(Sprüche 24,11)
Karte der Niederlande mit Verteilung der Lager 1942
Zum Maßstab: Der Abschlussdeich ist 30 km lang.
Das vorliegende Buch über die zufällig wieder aufgefundenen Briefe von Philip Slier ist die zutiefst mitfühlende Schilderung der Tragödie, die über einen jungen Amsterdamer Juden und seine weit verzweigte Familie während des Holocaust hereinbrach. Es ist aber auch eine gründlich dokumentierte wissenschaftliche Analyse der Umstände, die dazu führten, dass der junge Philip Slier und so viele andere Unschuldige von den deutschen Nazis und ihren Helfershelfern vor Ort umgebracht wurden. Wir werden Zeugen des langsamen und methodischen Vernichtungsprozesses, der in den von den Deutschen besetzten Niederlanden damit begann, dass Juden nicht mehr ihrer Arbeit nachgehen durften und vom Schulbesuch ausgeschlossen wurden. Dadurch gehörten sie zu dem Personenkreis, für den die Einweisung in ein Arbeitslager in Frage kam, was schließlich damit endete, dass sie in Westerbork, dem gefürchteten niederländischen Durchgangslager, zusammengefasst wurden. Von dort aus führte der Weg direkt nach Auschwitz oder in eines der anderen Vernichtungslager.
Philip Slier, ein gut aussehender und intelligenter junger Mann, versuchte seinem Schicksal zu entkommen, doch das Glück war ihm nicht hold. Mit den Briefen, die er fast täglich aus dem Arbeitslager an seine Eltern schrieb und die durch einen Zufall mehr als fünfzig Jahre später beim Abriss eines Amsterdamer Wohnhauses wieder aufgefunden wurden, hat er ein ungewöhnliches Vermächtnis hinterlassen. Deborah Slier, eine nahe Verwandte von Philip, und ihr Ehemann haben sich intensiv mit diesen Briefen auseinandergesetzt und gründliche Recherchen angestellt, so dass diese Sammlung eine der wertvollsten zeitgenössischen Quellen für das jüdische Leben und das Leben in den Niederlanden während des Krieges ganz allgemein darstellt.
Wie vergleichbare authentische Dokumente aus anderen Regionen zeigen auch sie, dass das Verhaltensspektrum der nichtjüdischen Bevölkerung in Europa gegenüber den Opfern des Holocaust von erschreckender Grausamkeit bis hin zu Selbstaufopferung und Heldenmut reichte. Tod und Überleben der meisten Juden hing jedoch nicht in erster Linie von den Denunzianten ab oder von jenen, die Juden versteckten, sondern von den deutschen Nazis und den lokalen Behörden. Ausschlaggebend waren auch die Wendungen im Kriegsgeschehen, und in dieser Hinsicht zählten die holländischen Juden nicht zu den vom Glück Begünstigten.
Die beiden Herausgeber haben eine umfassende Recherchearbeit über das Leben in den besetzten Niederlanden, über den Holocaust und den Aufstand von Sobibor sowie über die Geschichte der Familie Slier geleistet. Die zahlreichen Fotos sind für den Leser hilfreich. Kurz gesagt, so wie »Das Tagebuch der Anne Frank« ist auch dieses Buch ein Meisterwerk.
István Deák
Seth Low Professor Emeritus für Geschichte
Columbia University
New York
1997 stieß Manus de Groot, der Vorarbeiter der Abrissfirma Deegen & Sohn, bei den Abbrucharbeiten eines Hauses in der Vrolikstraat 128 in Amsterdam auf ein Bündel Briefe, das in der Zwischendecke des Badezimmers im zweiten Stock versteckt war. Er nahm an, sie seien wichtig, denn es waren so viele – 86 Briefe und Postkarten sowie ein Telegramm. Sie stammten von Flip (Philip) Slier, der sie 1942 aus einem Zwangsarbeitslager an seine Eltern geschrieben hatte. Er war damals achtzehneinhalb Jahre alt. Manus de Groot nahm die Briefe an sich. Bei der Lektüre konnte er die wachsende Angst des Jungen spüren. Er war zutiefst bewegt. Da er früher einmal für das NIOD (Nederlands Instituut voor Oorlogs Documentatie, das nationale Institut für Kriegsdokumentation in den Niederlanden) gearbeitet hatte, beschloss er, die Briefe diesem Institut zu übergeben, mit der Bitte, ihn über das weitere Schicksal des Jungen und seiner Familie zu informieren und ihm mitzuteilen, ob es Überlebende gebe. Dieses Buch ist die Antwort.
Die Bedeutung der Briefe lag für David Barnow, den Experten für Anne Frank am NIOD, sofort auf der Hand, und deshalb machte er Elma Verhey auf sie aufmerksam, eine Expertin auf diesem Gebiet, Journalistin und Autorin der Bücher Om het Joodse Kind und Kind van de Rekening. Diese stellte Recherchen über den Hintergrund der Briefe an, schrieb sie ab und veröffentlichte einen Artikel dazu in dem niederländischen Wochenblatt Vrij Nederland.
In meinen Besitz gelangten die Briefe dann im Jahr 1999. Damals sagten mir Flips Anspielungen und die Dinge, auf die er sich bezog, rein gar nichts, doch ich wollte ihn verstehen und mehr erfahren, und deshalb habe ich schließlich dieses Buch verfasst. Ich habe mich bemüht, die Menschen ausfindig zu machen und die Umstände neu erstehen zu lassen, unter denen der Junge während der Besatzung der Niederlande durch die Deutschen vor mehr als sechzig Jahren gelebt hat. Und je weiter und tiefer ich mit meinen Nachforschungen vorstieß, umso deutlicher trat mir allmählich Flips Welt vor Augen. Als ich erst einmal Fotografien und Dokumente in den Händen hielt und über Ortskenntnisse verfügte, wurde es für mich leichter, seine Angst zu begreifen und vor allem seine seelische Verfassung, seinen Mut und seinen Optimismus und seine Großherzigkeit wertzuschätzen. Der liebenswerte und bewundernswürdige Mensch, der sich mir erschloss, sollte mir für die kommenden sieben Jahre zu einem engen Gefährten werden.
Ich habe die Briefe nur gering editorisch überarbeitet. Flips Eigenarten in Orthografie und Grammatik, seine Fehler, durchgestrichene Passagen sind nicht beibehalten worden, Hervorhebungen indes werden wiedergegeben, um die Originalaussage der Briefe, ihren Charakter und ihre Form zu bewahren. Die ungewöhnlichsten oder charakteristischsten Teile seiner Briefe – all die »daaags!« [Tschüss], die uns wie ein Barometer seine jeweilige Stimmung verkünden – haben wir gescannt, kopiert und unter die Übersetzungen gesetzt, so wie sie auch unter jedem der originalen Briefe standen.
Wenn einmal eine Korrektur notwendig wurde, haben wir sie in eckigen Klammern hinzugefügt. Erklärungen finden sich in Fußnoten oder im Anhang.
Mein Vater und Flips Vater waren Brüder; beide wurden in Amsterdam geboren. Im Jahr 1922 verließ mein Vater die Niederlande und wanderte nach Südafrika aus, von wo aus er in einem regen Briefwechsel mit seiner Familie gestanden haben muss, denn mir waren die Namen und Gesichter vieler holländischer Verwandter vertraut, deren Fotos die Seiten seines grünen Albums füllten. Ich erinnere mich noch gut an jenen Tag im Jahr 1940, an dem ich aus der Schule nach Hause kam und meine Mutter in Tränen aufgelöst fand, weil die Deutschen in die Niederlande einmarschiert waren. Und ich erinnere mich an eine Postkarte, die uns etwa zwei Jahre später erreichte. Ein Onkel schrieb, er befinde sich in einem Lager, es gehe ihm gut, aber wir möchten doch bitte etwas zu essen schicken. Nach dem Krieg erhielten wir ein Schreiben vom Roten Kreuz, in dem uns mitgeteilt wurde, dass alle Brüder und Schwestern meines Vaters in Konzentrationslagern umgekommen waren und dass meine Großmutter im Lager Westerbork gestorben war. Es war das einzige Mal, dass ich meinen Vater je weinen sah.
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