Im ersten Jahr nach dem Einmarsch der Deutschen vom 10. Mai 1940 ging das Leben in der Vrolikstraat zunächst seinen gewohnten Gang. Die Deutschen zogen die Schlinge so langsam und so geschickt zu, dass der Vorsitzende des Judenrates, Abraham Asscher, später sagte, bei der Einrichtung des Judenrates im Februar 1941 sei »die Haltung der Deutschen gegenüber den Juden keineswegs offen feindselig gewesen«. A. J. Herzberg zufolge behandelte der Lagerleiter von Westerbork, Oberstleutnant Gemmeker, die Juden im Allgemeinen höflich: »... gelegentlich vermittelte er den Eindruck, als hasse er die Juden nicht mehr als ein Schlachter die Kühe«. 1
Ziel der deutschen Politik in den Niederlanden war es, die Küste gegen eine Invasion der Alliierten zu befestigen, das Land in das großdeutsche Reich einzubinden, Nahrungsmittel, Geld und Vermögen zu stehlen, die Niederländer zu Arbeitssklaven zu machen und das gesamte Land von Juden zu säubern. Bis 1942 durften die Juden so gut wie keinen Beruf mehr ausüben. Waren sie dann erst einmal arbeitslos, wurden sie in eines von circa fünfzig Arbeitslagern geschickt, die über die ganzen Niederlande verteilt lagen und die in Wirklichkeit nichts anderes waren als provisorische Gefängnisse. Im Frühjahr 1942 war der achtzehnjährige Flip einer von siebentausend Juden, die in ein niederländisches Arbeitslager eingewiesen wurden. Von dort aus schrieb er fast täglich an Freunde und an seine Familie, und seine Briefe stellen für uns heute einen einzigartigen Augenzeugenbericht über das Leben im Lager Molengoot dar.
Im Oktober 1942 wurden die Lager geräumt. Die Insassen wurden im Durchgangslager Westerbork zusammengefasst, von wo aus die Transporte nach Polen abgingen. Von 1941 bis 1944 wurden circa 104 000 Juden deportiert, 24 000 gelang es indes, sich zu verstecken; sie wurden, wie die Holländer sagen, zu onderduikers , d.h. tauchten unter. Ab 1943 zogen die Deutschen 800 000 nichtjüdische Niederländer zum Arbeitsdienst in Deutschland ein, viele meldeten sich auch freiwillig zur Wehrmacht, doch sehr viele weigerten sich, dem Befehl Folge zu leisten, und tauchten ebenfalls unter. Sie wurden daraufhin von der Polizei steckbrieflich gesucht. Die onderduikers erfuhren Unterstützung von Hunderten und Tausenden ihrer Landsleute, die diesen Fremden bereitwillig Tür, Geldbeutel und Speisekammer öffneten und so ihren eigenen Wohnraum, ihre Privatsphäre und das Essen mit ihnen teilten, und das, obwohl sie härteste Strafen vonseiten der Deutschen riskierten, wenn sie onderduikers bei sich versteckten, nämlich Konzentrationslager oder gar die Todesstrafe. Leider aber befolgten nicht alle das biblische Gebot, »jene zu erretten, so man töten will«, und viele onderduikers wurden verraten. Im Herbst 1944 verhängten die Deutschen als Vergeltungsmaßnahme für einen landesweiten Eisenbahnerstreik eine Lebensmittel- und Brennstoffsperre, durch die 22 000 Menschen hungers starben. Unter diesen Umständen bedeutete ein zusätzlicher Esser eine schwere Last.
Als ich 1953 das erste Mal in die Niederlande reiste, wohnte ich bei meinem Cousin Arthur Philips und seiner Frau Willy (Wilhelmina Magdalena). Wir verstanden uns gut und ich verbrachte die meiste Zeit mit Willy. Wir redeten und redeten, doch der Krieg, der ja erst wenige Jahre zuvor zu Ende gegangen war, bildete nie ein Gesprächsthema. Willy erzählte mir nicht, dass sie und Arthur während des Krieges im Versteck gelebt hatten oder dass ihre drei Schwestern und ihr Bruder umgebracht worden waren. Ja, eigentlich erwähnte sie nie, dass sie Geschwister gehabt hatte, allerdings berichtete sie mir, wie es war, als die Polizei kam, um ihre Mutter abzuholen, die deportiert werden sollte. Willy hatte die Beamten angefleht, auch sie mitzunehmen, doch die hatten sich geweigert, weil ihr Name nicht auf ihrer Liste stand. Erst als ich ein halbes Jahrhundert später, im Jahr 2005, mit Jules Arthur sprach (Willys und Arthurs Sohn), erfuhr ich, dass Arthur 1940 beim Einmarsch der Deutschen in der niederländischen Armee gedient hatte, dass er von einer Kugel in die Schulter getroffen worden war und deshalb zur Genesung ein Jahr in einem Krankenhaus verbringen musste. Eine der Krankenschwestern dort, Johanna Vink, hatte den Vorschlag gemacht, Minke Honij solle ihn verstecken, was diese auch für die gesamte Zeit des Krieges tat. Willy selber wurde von Johannas Eltern versteckt, doch wie so viele untergetauchte Menschen wechselte Willy unzählige Male das Quartier. Zu den Personen, die ihr Unterschlupf gewährten, gehörte auch eine junge Frau namens Betje Bosboom. Betje wurde bei den Deutschen denunziert und sofort standrechtlich erschossen. Nach dem Krieg heiratete Johanna Willys Bruder, der, in einem Hühnerstall verborgen, überlebt hatte.
In seinen Briefen spielt Flip sein Leid herunter. Aus ihnen erfahren wir, wie seine guten Freunde Karel und Dick van der Schaaf dazu beitrugen, ihm das Leben leichter zu machen. Als Mittelsmänner überbrachten sie Flip und etlichen seiner Kameraden in den Arbeitslagern Nahrungsmittel, Kleidung, Geld, Botschaften und gute Wünsche. Schließlich sollten die beiden selber als Zwangsarbeiter nach Deutschland geschickt werden, tauchten jedoch als onderduikers in Friesland unter. Ich hätte nie geglaubt, dass es für mich eine so große Freude bedeuten würde, Karel und seine Frau Sippy kennenzulernen. Sie strahlten so viel Güte aus, dass ich sie, als ich ihnen 2004 begegnete, sofort ins Herz schloss. Nun konnte ich mir gut vorstellen, was die Van der Schaafs für Flip bedeutet hatten. Seitdem haben wir viele glückliche Tage, ja Wochen miteinander verlebt und über Flip und ihre gemeinsamen Freunde in Amsterdam gesprochen. Karel holte Dutzende von Fotos hervor, und zusammen verbrachten er, Sippy und ich Stunden damit, die darauf abgelichteten Personen zu identifizieren und seine Fotos mit denen aus dem Album meines Vaters zu vergleichen.
Flip schrieb häufig über seine beiden engsten Freunde im Lager, über Nico Groen, der wahrscheinlich nicht überlebt hat (Truus Sant hörte, er sei in Den Haag festgenommen worden), und über Simon Loonstijn, der am 30. Januar 1944 aus Monowitz (einem Nebenlager von Auschwitz) eine Postkarte an Freunde in Den Haag geschickt hatte. Mir war das große Glück vergönnt, die Freundschaft von Simons Schwester Tootje Loonstijn und die ihres Mannes Gerrit Renger zu genießen. Sie waren außerordentlich hilfsbereit, stellten mir all ihre Fotos und Simons Briefe zur Verfügung und berichteten mir viel über das Leben unter der deutschen Besatzung. Sie erzählten mir auch von Professor R.P. Cleveringa und von jenen beiden Lehrerinnen in Amsterdam, M.L. Hoefsmit und C.W. Ouweleen, die zwölf Kinder bei sich versteckt hatten und bei denen einmal ein Nachbar spät in der Nacht an die Tür geklopft und sich beschwert hatte: »Ihre onderduikers machen so viel Lärm, dass meine onderduikers keinen Schlaf finden können.«
Flip, Simon und andere erfuhren großzügige Hilfe von einigen Bauern aus der Gegend, besonders von den Familien Vrijlink und Veurink, deren Hof nur etwa zweihundert Meter vom Lager entfernt lag. 1942 schrieb Greet Vrijlink an die Loonstijns: »... wir können doch nicht danebenstehen und zusehen, wie jemand anders Hunger leidet.« Flip schrieb: »Mama und Papa, ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie nett die Vrijlinks sind ... sie sind so lieb zu uns ... wie eine Mutter.« Am 27. Oktober 2005 traf ich die Familie Vrijlink und konnte ihnen für all das danken, was sie getan hatten. Es war mir auch eine große Freude, Hermina Vrijlink persönlich zu ihrem 77. Geburtstag zu gratulieren und die Gesellschaft ihres Bruders Seine zu genießen, der sich seit damals, als vor dreiundsechzig Jahren das Foto von ihm und Flip aufgenommen wurde, kaum verändert hat. Es fällt nicht schwer, zu verstehen, wie sehr Flip die Herzlichkeit schätzte, die er und alle anderen Vrijlinks ausstrahlten.
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