Nach einer guten Weile verließ sie das Meer wieder und sank zurück auf das Handtuch. Das Salzwasser lag in dicken Tropfen auf dem Körper und das Haar klebte an den Schultern. Das Glücksgefühl, das sie kurzzeitig verspürt hatte, kehrte sich schnell in eine innere Leere um. So hatte sie sich zuletzt am Tag der Auswanderung ihrer Eltern nach Australien vor drei Jahren gefühlt, dem bisher emotionalsten Moment ihres Lebens.
„Ihr könnt mich nicht alleine lassen“, hatte sie mit Tränen in den Augen gesagt, als sie von den Plänen erfahren hatte.
„Komm doch mit, Nessa!“, schlug die Mutter vor. „Wenigstens für ein paar Monate!“
So einfach verhielt es sich aber nicht. Vanessa hatte einen Beruf, eine Wohnung, Freunde und lebte gerne im Rheinland. „Vielleicht später!“, hatte sie geantwortet.
Später war sie Toni begegnet und alles hatte sich richtig angefühlt. Der anspruchsvolle Job, die Maisonette und das prominente Umfeld.
Aber nun musste sie quasi bei null anfangen.
„Ich schaffe das!“ Vanessa ballte die Faust.
Sie erhob sich, hüpfte auf und nieder und beschloss, einen Spaziergang zu machen. Die Bucht maß von einem Ende zum anderen vermutlich wenige Hundert Meter. Durch die eintretende Ebbe dehnte sich der Strand allerdings weiter aus.
Ein Pärchen lag eng umschlungen an einem großen Felsen, der aus dem Sand ragte. Eine portugiesische Familie packte laut diskutierend die Picknickutensilien zusammen. Holländisch sprechende Kinder spielten Fußball. Die Flut hatte unzählige Muscheln angeschwemmt. Vielleicht war ein schönes Exemplar für Evelyn dabei. Sie sammelte ausgefallene Muscheln. Vanessa lief noch einige Zeit hin und her, dann zückte sie ihr Smartphone. Keine neue Nachricht. Evelyn war bestimmt im Stress. Und Toni? Ob er schon zu Hause war? Er hatte sicher keine Kosten und Mühen gescheut, von hier wegzukommen. Ach, was kümmerte es sie? Sie würde den Kontakt zu ihm auf Sparflamme halten. In das gemeinsame Zuhause würde sie nur zurückkehren, um ihre Sachen zu holen. Aber wo wollte sie in Zukunft wohnen? Sie ging eine Reihe von Freunden, Bekannten und entfernten Verwandten durch, aber es war niemand dabei, der ihr spontan Unterschlupf gewähren konnte. In der Großstadt würde es schwierig werden, sofort ein Zimmer oder Appartement zu finden. Aber Evelyn wusste sicher Rat.
„Wenn du Hilfe brauchst, ich bin immer für dich da“, hatte Toni mehr als einmal gesagt.
Seine Hilfe brauchte sie am allerwenigsten. Sie würde es alleine schaffen. Musste jetzt einen Schritt nach dem anderen gehen.
Vanessa erblickte ein Paar, das einem Kleinkind warme Sachen anzog. Ob der Meisterkoch ein guter Vater gewesen wäre? Hätte er sich die Zeit genommen, mit dem Nachwuchs am Strand zu tollen oder auf einen Spielplatz zu gehen? Tonis Leben bestand überwiegend aus dem Zubereiten von Gerichten. Das konnte er allerdings hervorragend.
Schluss mit Toni-Gedanken! Fasziniert ließ sie den Blick durch die Bucht schweifen. Jeder Fels schien handgeformt an den für ihn vorgesehenen Platz gesetzt worden zu sein. Auf einem Gesteinsbrocken, der an eine gigantische Haifischflosse erinnerte, ließen Kormorane das Gefieder trocknen. Links auf einem Plateau hockte ein Angler. Er hatte einen ungepflegten Bart und das helle, filzige Haar, das im Kontrast zur dunklen Haut stand, reichte weit über die Schultern. Er erinnerte Vanessa an einen Steinzeitmenschen. Wenn sie sich ihr Essen selbst angeln müsste, würde es auf eine Nulldiät hinauslaufen.
Sie würde sich direkt nach ihrer Rückkehr um einen neuen Job kümmern, sonst konnte sie sich demnächst neben den Mann setzen und darauf warten, dass er ihr etwas abgab. Aber so weit war es ja noch nicht. Toni hatte sie gebeten, weiterhin als seine persönliche Assistentin tätig zu sein. Das kam für sie jedoch nicht infrage. Sie wollte die Zusammenarbeit sofort beenden. Schon wieder kreisten ihre Gedanken nur um Toni. Sie musste sich ablenken.
Sie drehte erneut eine Linkskurve, denn sie hatte die Mauer erreicht, die die Bucht vom angrenzenden Strand trennte. Rechts lag nun die gewaltige Felswand mit einer riesigen Höhle, die an eine Bühne erinnerte. Mittendrin saß eine Katze und starrte ins Leere. Weiter hinten erkannte Vanessa Gegenstände. Bestimmt lagerten Fischer hier ihre Utensilien.
Sie erinnerte sich daran, was sie am Vorabend irritiert hatte: ein Lichtschein. Nun sah sie den Schlafsack. In der Grotte wohnte jemand. War das nicht zu kalt nachts? Vanessa hatte trotz warmer Jacke gefroren, was wahrscheinlich auch der verfahrenen Situation geschuldet war. Plötzlich fiel es Vanessa wie Schuppen von den Augen. Der Angler mit der wilden Haarpracht lebte in dieser Höhle. Seiner Hautfarbe nach zu urteilen wahrscheinlich schon seit Monaten. Aus welchem Grund? Liebeskummer? Oder handelte es sich um einen Straftäter? Vielleicht hatte er einfach die Nase voll von der Überflussgesellschaft.
„Irgendwie verstehe ich ihn sogar. Gibt es einen schöneren Platz zum Leben?“, dachte Vanessa. „Wir könnten ja eine Selbsthilfegruppe gründen. Er hört sich meine Probleme an und ich kümmere mich um seine Themen.“ Sie schmunzelte beim Gedanken, wie sie beim Grillen über Gott und die Welt reden würden.
Die Sonnenstrahlen erreichten den Strand kaum noch und mit der schwindenden Wärme verzogen sich die Badegäste.
Nachdem Vanessa unzählige Male am Wasser hin- und hergelaufen war, sank sie zurück auf das Badetuch. Sie verspürte keine Lust auf das Hotelzimmer.
Vor ihr ragte eine riesige Felsformation aus dem Meer. Das Profil erinnerte sie an ein Frauengesicht. Obenauf ein Haarbüschel, darunter die Augenhöhlen, ein spitzes Näschen und die Mundpartie mit leicht geöffneten Lippen. Man musste der Fantasie nur freien Lauf lassen.
Allmählich wurde Vanessa ruhiger. Sie legte sich hin. Die Gedanken hörten auf zu kreisen und das Wellenplätschern sang sie in den Schlaf. Plötzlich spürte sie etwas Feuchtes am Hals. Sie zuckte zusammen und riss die Augen auf.
*
Leon konnte seinen Blick kaum von der Frau wenden. Das braune Haar umspielte ihr Gesicht. Rücken und Hals bildeten eine gerade Linie. Auch wenn er am Vorabend nur ihre Silhouette gesehen hatte, war er sich sicher, es war dieselbe, die mit ihrem Partner gestritten hatte. Offenbar erfreute sie sich bester Gesundheit.
Sie war auf einmal am Strand erschienen. Mit großen Schritten zielstrebig auf den Platz am Wasser zugelaufen. Hatte ihr Handtuch ausgebreitet und sich geschmeidig darauf niedergelassen. Dann war sie grazil und ausdauernd durch den Atlantik geschwommen. Später hatte sie eine Runde nach der anderen über den Strand gedreht. Seit einiger Zeit saß sie nun wieder am Meer, den Blick in die Ferne gerichtet. Sie wirkte entspannt. Aber wie sah es in ihrem Inneren aus?
Sie anzusprechen, kam für Leon nicht infrage. Auch ohne Spiegel konnte er sich vorstellen, wie sich sein Äußeres in den letzten Wochen verändert hatte. Das Haar war verfilzt und er trug einen ungepflegten Vollbart. Die Kleidung wusch er im Atlantik. Trotzdem hätte man auf die Idee kommen können, er wäre in die Obdachlosigkeit abgerutscht.
Die Frau lag nun auf dem Rücken. Vermutlich schlief sie.
Leon verspürte großen Durst. Es war immer noch sehr warm. Er musste unbedingt in die Höhle zu seinem Wasserkanister. Der Weg führte allerdings an der Urlauberin vorbei. Er würde sich lautlos fortbewegen, um sie nicht zu erschrecken.
Sparky hob den Kopf. Begriff, dass Leon den Angelplatz verlassen wollte. Für ihn ein Anlass, ein wenig durch den Sand zu tollen. Er sprang federleicht vom Felsen auf den Strand, erblickte die Schlafende und flitzte auf sie zu. Ach du liebe Güte! Leon wollte Sparky zurückpfeifen, aber es war zu spät. Der Hund hatte die Frau erreicht, betrachtete sie, beugte sich hinunter und leckte ihr über den Hals.
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