So, die Roßaugasse habe ich hinter mir, auf zu neuen Ufern. Dazu muss ich den Langen Weg ein Stück nach Süden gehen, dann zweigt links die Trientlgasse (Priester und Wanderlehrer, 1817–1898) ab. An der Trientlgasse steht gleich am Anfang ein Flüchtlingsheim, also wohnen doch noch ein paar mehr Menschen in der Roßau. Bis jetzt bin ich nämlich – außer am Grabenweg – noch an keinen Wohnhäusern vorbeigekommen.
Die Trientlgasse geht kerzengeradeaus, das hat der 15-jährige Ralfi dereinst für eine Wahnsinnsfahrt mit einem Motorrad ausgenutzt. Mit mir am Sozius, selbstverständlich beide ohne Helm. Von wem er sich die 1000er Kawasaki ausgeliehen hatte? Ich hab’s vergessen, aber die Raserei ist mir in Erinnerung geblieben. Ralfi hat schlicht und ergreifend den Grasgriff voll aufgedreht und alle Gänge der Reihe nach hochgeschalten. Gleich einmal hat es ihm das Hemd aufgerissen, ich habe die Knöpfe wegspritzen gesehen. Und etwa bei Höchstgeschwindigkeit hat mir der Fahrtwind derart brutal Ralfis Haare ins Gesicht gepeitscht, dass danach zahlreiche kleine Schnittwunden zu sehen waren. Wir haben nur gelacht darüber. Wie heißt es so schön? Unvernunft ist das Privileg der Jugend. Stimmt – und manchmal überlebt man diese Unvernunft sogar …
Ich habe inzwischen die Trientlgasse auch überlebt, jetzt fehlt mir in der Roßau nur noch eine richtig lange Straße, der Rest sind eher kleinere Querverbindungen. Die parallel zur Trientlgasse angelegte Valiergasse (Südtiroler Pionier der Raumfahrt, 1895–1930) wird mich wieder zurück zum Langen Weg bringen und danach werde ich für heute Schluss machen. Meine Wade mag nicht mehr und ich bin es leid, sie alle paar Minuten durch Stehenbleiben besänftigen zu müssen. Da stimmt etwas Gröberes nicht, denn dass sich ein Muskelkater so lange hält, das ist ja nicht normal. Mal schauen, wie das weitergeht, aber jetzt mache ich erst mal die Valiergasse fertig. Die war in meiner Reichenauer Zeit immer mein Heimweg vom Baggersee und ich bin sie sehr oft entlanggegangen. Früher waren hier nur vereinzelt Firmen angesiedelt, das Möbelhaus Pallhuber zum Beispiel ist damals schon dagestanden. Heute wird hier übrigens Autozubehör verkauft. Kurz vor dem Ende der Valiergasse komme ich dann noch beim Schützenheim Reichenau vorbei. Das hat sich in den letzten 40 Jahren überhaupt nicht verändert, auch der Parkplatz davor schaut noch genauso aus wie damals. Ich war ja zwei, drei Jahre lang Mitglied der Reichenauer Schützenkompanie und habe auf diesem Parkplatz das Exerzieren und das Abfeuern der Ehrensalven gelernt. Lang, lang ist’s her.
Gleich nach dem Schützenheim befindet sich der große Parkplatz des „Lidl“-Markts und schon von Weitem sehe ich Ilse im Auto auf mich warten. Geschafft – knapp an die zehn Kilometer waren das heute, sie haben sich aber wie fünfzig angefühlt. Mal schauen, ob es morgen wieder besser funktioniert. Vielleicht muss ich erst wieder richtig ins Gehen reinkommen …
Ach ja, was mir heute aufgefallen ist – es ist liegt eine völlig neue Art von Müll herum: Schutzmasken. Ich habe bis vor ein paar Wochen noch nie in meinem Leben eine Gesichtsmaske am Boden liegen gesehen, jetzt liegen sie zuhauf am Straßenrand und auch auf den Gehsteigen. An einigen Dutzend bin ich in letzter Zeit sicher vorbeigekommen, ein Münzfund wäre mir lieber ...
Reim des Tages:
Mit Vollgas durch die Trientlgasse,
das fanden wir damals richtig klasse.
Tag 9
Freitag, 17. April 2020
Das Wetter ist wieder super, körperlich fühle ich mich ziemlich gut, also machen wir mit der Roßau weiter. Ich möchte es heute nicht übertreiben, aber die Roßau würde ich schon gerne fertig machen. Es fehlen mir in dem Stadtteil eh nur mehr ein paar Straßen, die meisten davon sind angenehm kurz. Ilse bringt mich ganz hinunter zum Ostende des Baggersees, das ist ein gutes Stück nach dem Klärwerk. Bis hierher reicht der Josef-Mayr-Nusser-Weg (Opfer der Nazi-Diktatur, 1910–1945), meine erste Adresse heute. Ich bin noch keine 200 Meter weit gegangen, da fordert mich meine Wade schon energisch zum Stehenbleiben auf. Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich muss aber gehorchen, sonst bestraft sie mich wieder mit dem Einzigen, was sie zu bieten hat – mit bösen Schmerzen. Allein schon bis zur Telefonzelle an der Ecke zum Grabenweg muss ich zwei weitere Male stehenbleiben, heute geht’s einfach nicht. Der Josef-Mayr-Nusser-Weg geht nach dem Grabenweg noch weiter und als er am Griesauweg endlich sein Ende findet, habe ich keinen Schritt ohne Schmerzen gehen können. Da passt es wie die Faust aufs Auge, dass ich kurz vor dem Ziel an einem Schrottplatz vorbeikommen – genauso abgewrackt fühle ich mich nämlich momentan auch.
Völlig ausgelaugt von den paar hundert Metern Gehen falle ich auf den Beifahrersitz und in dem Moment wird mir klar: Das ist kein Muskelkater mehr, ich habe was anderes. Hoffentlich keine Thrombose, da schmerzt nämlich auch oft als Erstes die linke Wade. Das habe ich von Dr. Google erfahren, aber weil ich kein ganzer Trottel bin, lasse ich mich natürlich von einem richtigen Doktor untersuchen. Ich kriege dann tatsächlich bereits am kommenden Montag einen Termin, um 15 Uhr werde ich bei Dr. Jörg Schnapka in der Museumstraße auf der Matte stehen. Das Projekt ist natürlich unterbrochen.
Reim des Tages:
Solltest du vor Schmerzen schon die Sterne sehen,
dann musst du dringend zum Doktor gehen.
Tag 10
Dienstag, 23. Juni 2020
Leider ist alles anders geworden. Vor fast sieben Wochen bin ich meine letzte Straße gegangen, es war die 113. auf meiner Liste. Fehlen also noch weit über 500 Straßen, Gassen, Plätze etc.
Seit der Untersuchung durch Dr. Jörg Schnapka weiß ich, dass die Schmerzen in meiner Wade nichts mit Untrainiertheit oder Muskelkater zu tun haben. Kurz zusammengefasst: Das ständige Aua wird von der PAVK verursacht, das ist die „Periphere Arterielle Verschlusskrankheit“. In meinem Fall ist eine Arterie bereits so verstopft, dass der Blutfluss eingeschränkt ist und meine Wade permanent mit Sauerstoff unterversorgt wird. Und dann schreit sie. Im Volksmund nennt man die PAVK auch Schaufensterkrankheit (wo ich doch eh so ungern einkaufen gehe!) und das hat damit zu tun, dass sich die Betroffenen alle 100 oder 200 Meter ausrasten müssen, weil die Schmerzen beim Gehen zu groß sind. Und damit das nicht so auffällt, gehen sie gern in Innenstädten spazieren – bei einem Schaufensterbummel bleibt man schließlich auch immer wieder mal stehen … Meine Krankheit ist unheilbar, theoretisch könnte man zwar einen Stent einsetzen oder einen Bypass legen, aber solche Operationen verlaufen oft nicht nach Wunsch. Dr. Schnapka meint, an ein altes Gefäß kann man halt nur schlecht einen Bypass aus Goretex anschließen. Wenn ich meinen Arzt etwas besser kennengelernt habe, dann frage ich ihn, ob er mir das Ganze in einem kleinen Interview erklärt. Vor allem deshalb, damit ich als medizinischer Laie keinen Blödsinn verzapfe, was meine Krankheit betrifft. Mal schauen …
Mein Geh-Radius liegt aktuell bei 170 Metern schmerzfrei, danach kann ich noch gut 30 bis 50 Meter unter immer heftiger werdenden Schmerzen weiterhumpeln. Danach ist Schluss, rien ne va plus, ich würde umfallen wie ein Sackerl Zement. So kann ich meine „Erstbegehung von Innsbruck“ natürlich nicht mehr fortsetzen, auch wenn ich versuchen möchte, so viele Straßen wie möglich trotzdem zu Fuß zu gehen. Viele Gassen sind ja so kurz, dass ich mit meinem Radius von plus/minus 200 Metern locker durchkommen sollte. Aber wie soll ich von der Hungerburg runterkommen? Die Höhenstraße ist 3,5 Kilometer lang. Oder wie soll ich die „Höll“ in der Gramartstraße bewältigen? Die hat eine 28-prozentige Steigung. Das geht einfach nicht mehr. Auch die Igler Straße, die Haller Straße oder die Kranebitter Alle nicht – von der Länge her ist das vollkommen illusorisch.
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