Seit wenigen Jahren geht man ja in der ersten Hälfte der Philippine-Welser-Straße den Gleisen der 3er-Linie entlang, die neue Endhaltestelle liegt genau gegenüber der Raika. Gleich dahinter haben wir unsere Wohnung gehabt und vieles in der Gegend schaut noch so aus wie früher. Ab dem ehemaligen Café „Trappschlössl“ sind alle Häuser in der Straße unverändert geblieben, seit ich vor 50 Jahren hier als Kind gewohnt habe. Gut, das kleine Lebensmittelgeschäft der Familie Anranter gibt es nicht mehr, aber das hat schon sehr lange zugesperrt. Über den Anranter – man ist damals „zum Anranter“ gegangen – könnte ich auch seitenlang schreiben, geht nicht, also müssen es Stichworte tun: aufschreiben lassen, Bomben-Semmel, Wurstsemmel mit Katzenwurst.
Wir gehen weiter, kommen am Gasthaus „Kapeller“ vorbei, das war einmal eines der besten Gourmet-Restaurants Innsbrucks, zumindest aber das teuerste. Ich war nie dort. Dann sind wir eh schon bei der Amraser Kirche, in der ich ein paar Mal ministriert habe. Das ist kein sonderlich ergiebiges Kapitel, also überspringe ich es. Nur so viel – ich bin nicht mal zum Klingeln oder Weihrauchbehälter-Schwenken gekommen.
Schon sind wir mit der Philippine-Welser-Straße fertig, drehen um und gehen die paar Meter zur Kirche zurück. Links davon geht der Kirchsteig (nomen est omen) weg, mein ehemaliger Schulweg. Hier habe ich die ersten drei Klassen der Volksschule besucht und ich bin meinen Lehrern noch lange in Erinnerung geblieben. Aber nicht als Rabauke, sondern als erster Erstklässler, der in der Pause Zeitung gelesen hat. Erklärung: Mein Bruder Robert wurde ein Jahr vor mir eingeschult, er hat fleißig seine Hausaufgaben gemacht und ich habe brav zugeschaut. So lernte ich spielerisch das Lesen, konnte bald darauf auch die Druckschrift entziffern und ab da bestand eine Zeitung für mich nicht nur mehr aus Bildern. Mein Vater war so stolz auf mich, dass ich bei Verwandten und Bekannten aus der Zeitung vorlesen musste. Durch das viele Lob wurde mir langsam klar, dass das offenbar etwas Besonderes ist. Und so ist es gekommen, dass ich mir manchmal am Schulweg eine Zeitung aus dem Müll gefischt habe und demonstrativ in der Klasse gelesen habe. Einer meiner Lehrer hat sich jedenfalls auch 30 Jahre später noch kopfschüttelnd daran erinnern können.
So, jetzt sind wir mit dem Kirchsteig schon durch, aber noch nicht mit ihm fertig. Wir gehen ihn nämlich gleich noch einmal retour und danach die Philippine-Welser-Straße in Richtung Westen. Ein Stück nach der Raika drehen wir nach Norden und sind somit in der Wallpachgasse (Innsbrucker Lyriker, 1866–1946) angekommen. Hier hat Ilse als Kind und Jugendliche ein paar Jahre lang gewohnt, übrigens schräg gegenüber von unserem Wohnblock. Wir hätten uns von unseren Fenstern aus zuwinken können!
Die kurze Wallpachgasse ist schnell durchschritten und endet an der Gerhart-Hauptmann-Straße. Die gehen wir ein paar Meter in Richtung Westen und biegen rechts in die Mosengasse (Texter der Tiroler Landeshymne, 1803–1867) ein. Die kleine Gasse beherbergt ein paar hübsche Häuser und zusätzlich eine nette Überraschung. Denn am Ende der Mosengasse befindet sich noch die ganz kleine Vintlergasse (Tiroler Lyriker, 1837–1890). Die geht keine 100 Meter weit links hinein, womit wir gleich zwei Gassen hintereinander als erledigt abhaken können. Super!
Zu unserer nächsten Adresse ist es auch nicht sonderlich weit, zuerst von der Vintlergasse über einen Fußweg hinaus auf die Amraser-See-Straße, gute 300 Meter den Südring entlang Richtung Osten, dann sind wir eh schon bei der Algunderstraße (Gemeinde in Südtirol) angekommen. Obwohl ich ganz in der Nähe gewohnt habe, war ich noch nie in dieser Straße. Den Namen kenne ich auch nur aus der Taxilenkerprüfung, hier habe ich jedenfalls nie einen Auftrag bekommen. Die Algunderstraße bringt uns wieder zur Gerhart-Hauptmann-Straße zurück und wir gehen sie zum zweiten Mal hintereinander in Richtung Westen, ohne dass wir diese Adresse abhaken können. Klingt unlogisch, ist aber strategisch besser. Denn kurz bevor die Gerhart-Hauptmann-Straße endet, geht links die Wolkensteingasse (Minnesänger, 1377–1445) weg. Die ist keine 200 Meter lang und gleich nach Beendigung der kurzen Gasse folgt eine Rechts-rechts-Kombination und zack, sind wir endlich an einem Anfang der Gerhart-Hauptmann-Straße (Deutscher Dramatiker, 1862–1946). Jetzt können wir sie in ihrer ganzen Länge durchwandern, so ist nun mal die Regel. Die paar hundert Meter sind gleich einmal erledigt und nach einem kleinen Stück auf der Geyrstraße kommen wir zur Dr.-Ferdinand-Kogler-Straße (Rechtsgelehrter, 1872–1944). Die führt zu Beginn zwischen dem sogenannten „Ärztehaus“ und dem „DEZ“ hindurch und wir staunen über den nahezu leeren Parkplatz des Einkaufszentrums. Kein Wunder, außer den Lebensmittelgeschäften sind alle Läden geschlossen, was soll man also dort. Wir marschieren weiter die Straße entlang, es herrscht kaum Verkehr, das ist ganz ungewohnt. Schließlich ist die Dr.-Ferdinand-Kogler-Straße nicht nur die wichtigste Zufahrt zum „DEZ“, es gibt auch einen McDonald’s hier und es gehen die Autobahnzufahrten zur A12 und zur A13 von dieser Straße ab. Normalerweise stehen hier die Autos den ganzen Tag über Stoßstange an Stoßstange, heute könnte sogar eine Nacktschnecke gefahrlos die Straße überqueren …
Nach der Unterführung sehen wir schon das Ende der Straße vor uns, bis zur Andechsstraße müssen wir aber schon noch gehen. Mensch die Andechsstraße! Sie wird die erste Straße bei meinem „Projekt im Projekt“ sein – ich möchte nämlich die „Reichenau an einem Tag“ durchwandern, das sollte sich machen lassen. Ich denke schon die ganze Zeit über den perfekten Geh-Plan nach und ziemlich sicher werde ich mit der Andechsstraße anfangen. Aber das ist Zukunftsmusik, wir sind ja noch nicht einmal mit Amras fertig.
So, für den heutigen Tag war es das mal wieder, wir gehen zu Fuß nach Hause. Ach ja – normalerweise wären wir vielleicht bei der OMV-Tankstelle an der Andechsstraße eingekehrt, auf einen heißen Fleischkäse, ein Semmerl und ein Cola. Aber – nix ist mehr normal …
Reim des Tages:
Wir spazieren durch Amras und sind ganz betroffen –
alle Geschäfte sind zu und kein Gasthaus hat offen.
Tag 6
Donnerstag 19. März 2020
Auch wenn ich meine Leserinnen und Leser nur sehr ungern mit diesem ganzen Corona-Wahnwitz belasten möchte, so muss ich doch auf die aktuelle Situation eingehen. Seit gestern, 22 Uhr, steht ganz Tirol unter Quarantäne, man darf seine Gemeinde nicht mehr verlassen. In Tirol haben sich bis jetzt knapp 500 Personen mit dem Virus infiziert, gestorben ist zum Glück noch niemand. Die grüne Verkehrs-Landesrätin Ingrid Felipe dankt (!!!) den Tirolerinnen und Tirolern, dass sie derzeit auf Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel verzichten. Dafür ist jetzt in ganz Innsbruck das Parken gratis, damit man mit dem Auto in die Stadt fährt. Echt verrückte Zeiten …
Wir setzen unser Projekt trotzdem fort. Wenigstens ein paar Straßen von Amras würden ich gerne abgehen, das ist eh nahe an unserer Wohnung und das wird man uns schon durchgehen lassen. Ilse fährt mich zur Hermann-Gmeiner-Straße (Gründer der SOS Kinderdörfer, 1919–1986), die liegt am Weg nach Ampass und beginnt für mich genau an der Ortstafel von Innsbruck. Dieser Teil von Amras trägt den Beinamen „Egerdach“, hier befand sich früher ein Heilbad und ein Erholungsheim, heute erinnert nur noch eine kleine Kapelle an diesen ehemaligen Kurort.
Wer die Hermann-Gmeiner-Straße schon einmal befahren hat, der wird sich garantiert über die unfassbare Menge an Kanal-, Wasser- und sonstigen Eisendeckeln gewundert haben, die den Stoßdämpfern eines Fahrzeugs alles abverlangen. Manche dieser Kanaldeckel, vor allem die ganz großen, haben durchaus die Dimension und die Tiefe eines Kinderplanschbeckens, da rumpelt’s dann ganz schön im Auto – und das alle paar Sekunden. Damit mir beim Gehen nicht langweilig wird, habe ich mir heute den Spaß erlaubt und die Kanaldeckel gezählt. Also – allein schon von der Ortstafel bis zur Hermann-Gmeiner-Akademie sind es 41 Stück. Wohlgemerkt nur die auf der Straße, die am Gehweg zähle ich nicht mit. Nach wenigen hundert Metern geht dann die Hermann-Gmeiner-Straße direkt in die Luigenstraße (Flurname) über, bis hierher zähle ich weitere 112 Kanaldeckel. In der Luigenstraße ist in den letzten Jahren heftig gebaut worden, die Mehrparteienhäuser sind wie die Pilze aus dem Boden geschossen. Ist sicher schön wohnen hier, zum Einkaufen kann man allerdings zu Fuß nirgends hingehen. Die Luigenstraße führt dann unterhalb von Schloss Ambras beim ehemaligen „Schloss-Café“ vorbei, übrigens sind bis dahin weitere 62 Kanal- und sonstige Eisendeckel dazugekommen. Anschließend noch unter der Autobahnunterführung durch und schließlich endet die Luigenstraße an der Geyrstraße, gegenüber dem Gasthaus „Bierwirt“. Genau an dieser Ecke war früher eine Tabaktrafik angesiedelt und manchmal bin ich als Kind den recht weiten Weg bis hierher gegangen, um meiner Mutter Zigaretten aus dem Automaten zu ziehen. Der Lohn dafür war ein Schilling und das Besondere dabei: Die Packung Smart Export hat damals neun Schilling gekostet und weil der Automat nicht wechseln konnte, war ein einzelner Schilling unter das Cellophan der Verpackung geschoben worden. Ein Schilling war 1969 nicht nichts, dafür gab es immerhin zehn Stollwerck oder eine Bombensemmel. Ach ja, im Haus daneben war einmal eine Produktionsstätte für „Recheis-Backerbsen“ untergebracht und meine Mutter war hier eine Zeitlang beschäftigt. Nach der Schule bin ich oft vorbeigekommen und konnte Backerbsen essen, so viel ich wollte. Ein Traum, auch den wunderbaren Geruch werde ich nie mehr vergessen.
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