Parallel zur Rilkestraße befindet sich etwas weiter westlich die Schretterstraße (Tiroler Portraitmaler, 1856–1909), aber die geht über die Dürerstraße drüber und endet erst an der Kranewitterstraße. Jetzt fehlt nur noch die recht kurze Landseestraße (Innsbrucker Hotelier, 1847–1924), die beginnt praktischerweise an der Kreuzung zur Kranewitterstraße. Ich gehe die Straße bis zu ihrem Finale bei der Gumppstraße durch und das war dann auch das Finale für mich am heutigen Tag. Im Auto überrascht mich Ilse dann mit der freudigen Nachricht, dass mit der Landseestraße der Stadtteil Pradl erledigt ist, alle Straßen, Gassen, Wege und Plätze bin ich in den letzten vier Tagen abgegangen. Na, das ist ja super, immerhin ist Pradl der bevölkerungsreichste Stadtteil Innsbruck, flächenmäßig wird es aber wohl größere geben. Wurscht, in ein paar Wochen weiß ich es genauer.
Daheim hat Ilse dann alle heute begangenen Straßen im Stadtplan ausgestrichen und dabei sind wir draufgekommen, dass wir noch zwei Straßen in Pradl übersehen haben, noch dazu zwei ziemlich wichtige und vor allem ziemlich lange. Also brechen wir unverzüglich auf und Ilse bringt mich noch einmal zum Tivoli-Stadion hinauf, denn genau gegenüber, an der Ecke zur Kaufmannstraße, hat die Resselstraße (Erfinder der Schiffsschraube, 1793–1857) ihren Anfang. Sie geht eh nur hinunter bis zur Anzengruberstraße, kein Vergleich mit der nächsten Straße. Denn die Anton-Eder-Straße (Innsbrucker Bürgermeister, 1868–1952) ist ein ganz anderes Kaliber, sie beginnt, schon nach dem Orts-Ende-Schild von Innsbruck, beim Kreisverkehr Innsbruck-Mitte. Es gibt auf den ersten 200 bis 300 Metern keinen Gehsteig, also gehe ich halb in der Wiese. Der Weg führt mich zum x-ten Mal heute am Tivoli-Stadion vorbei, jetzt habe ich es von allen Seiten umrundet. Da sehe ich plötzlich, dass direkt am Fußballstadion ein braunes Straßenschild angebracht ist. Ich unterbreche also ausnahmsweise eine eben begangene Straße und klettere die steile Wiesenböschung hinunter, um genauer nachzuschauen. Tatsächlich, der kurze Weg am Stadion nennt sich Stadionstraße, der Name ist also nicht wirklich weit hergeholt. Die hätte ich echt um ein Haar übersehen, natürlich absolviere ich sie auf der Stelle. Danach wieder zurück zum Ausgangspunkt und weiter geht’s auf der Anton-Eder-Straße. Nach dem Landessportheim muss ich die Unterführung des Tivoli-Kreisverkehrs benutzen, die Graffitis an den Wänden zeugen von viel künstlerischer Begabung unserer Spraydosen-Freunde. Aber hier dürfen sie das, die Flächen sind von der Stadt ausdrücklich dafür zur Verfügung gestellt worden. So, jetzt muss ich nur noch an der Ostseite des Tivoli-Schwimmbads vorbei und kurz nach dem Sonnpark endet mein heutiger Wandertag an der Amraser Straße.
Insgesamt bin ich heute durch 28 Straßen gewandert – das ist neuer Rekord.
Reim des Tages:
Bin bis jetzt durch 86 Straßen gegangen,
dabei habe ich gerade erst angefangen.
Tag 5
Mittwoch, 18. März 2020
Die Corona-Lage hat sich brutal verschärft, Italien meldet schon über 3.000 Tote, die meisten Menschen sterben in der Lombardei. Das Virus breitet sich auch in Österreich aus, auch hierzulande gibt es bereits Tote. Die Regelungen bezüglich der Ausgangssperren sind ziemlich verwirrend, vorgestern wurden von der Regierung nur vier Gründe genannt, warum man das Haus verlassen darf – Spazierengehen war nicht dabei. In Innsbruck sind alle Promenaden sowie alle Sport- und Spielplätze behördlich gesperrt, die Polizei kontrolliert streng und es hagelt bereits saftige Strafen. Dann hat es wieder geheißen, mit einem Hund darf man spazieren gehen, ohne Hund dürfe man sich lediglich im nahen Umkreis seiner Wohnung die Füße vertreten. Und schließlich wurde gestern verkündet, dass man doch auf die Straße gehen darf, allerdings ist jegliche sportliche Betätigung verboten. Wegen der Verletzungsgefahr, denn Ärzte und Spitäler haben momentan anderes zu tun …
Die Voll-Isolation ist also aufgehoben, das Wetter traumhaft und so steht einer Fortsetzung meiner Wanderung durch Innsbruck nichts mehr im Weg. Ilse begleitet mich heute zu Fuß, wir werden erneut direkt von der Haustür aus starten. Den Stadtteil Pradl habe ich ja schon als erledigt abgehakt, jetzt ist Amras dran.
Wir beginnen unsere Tour mit der Geyrstraße (Letzter Amraser Bürgermeister, 1894–1957), sie ist de facto die Verlängerung der Kranewitterstraße. Wir spazieren Richtung Süden, natürlich können wir nicht über die vierspurige Amraser-See-Straße drüber gehen, dafür ist eine Unterführung vorgesehen. Körperlich geht es mir super, die drei Tage Pause haben mir gutgetan. So macht mir auch der kleine Anstieg nichts, der uns aus der Unterführung herausbringt. Genau an dieser Stelle war früher das Gasthaus „Seewirt“ angesiedelt, mit großem Gastgarten und einem noch größeren Campingplatz. Mit meinem Opa bin ich hier manchmal auf ein Kracherl eingekehrt, auch schon über 50 Jahre her. Heute steht hier ein langgezogener Wohnblock, der bis hinunter zu der Kreuzung reicht, wo man dann links zum Einkaufszentrum „DEZ“ zufahren könnte. Wir halten uns aber geradeaus, denn die Geyrstraße geht noch ein schönes Stück weiter. Zuerst führt mein Weg am Amraser Kindergarten vorbei, danach steigt die Geyrstraße ziemlich an und schau, es meldet sich doch glatt wieder meine linke Wade. Wurscht, nur 100 Meter weiter vorne beim Dorfbrunnen steht eine Bank, das schaffe ich locker. Beim Rasten schaue ich zur Metzgerei „Hölzl“ rüber, die gegenüber liegt. Hier war ich oft einkaufen, als in Amras wohnendes Kind sowieso, später habe ich immer wieder mal auf eine schnelle Fleischkäsesemmel vorbeigeschaut. Das Geschäft ist längst geschlossen und in ein reines Wohnhaus umgebaut worden.
Amras hat sich aber noch einiges von seinem dörflichen Charakter erhalten können, es gibt noch mehrere Bauernhöfe in diesem Stadtteil und der eine oder andere wird bis heute bewirtschaftet. Ein Traktor auf der Straße ist hier kein seltener Anblick.
Nach dem feinen Break sehen wir das Ende der Geyrstraße schon vor uns, denn das Gasthaus „Bierwirt“ ist das letzte Haus. Seit gestern ist der „Bierwirt“ behördlich geschlossen, so wie alle anderen Gastgewerbe- und Handelsbetriebe in ganz Österreich auch. Schon ein völliger Wahnsinn, dieses Virus. Ewig kann das jedenfalls nicht so weitergehen, denn sonst werden die meisten der jetzt geschlossenen Betriebe nie wieder aufsperren. Andererseits ist das Corona-Virus wohl nur durch solch extreme Maßnahmen zu bekämpfen. Es muss auf jeden Fall weg, denn was es anrichten kann, sieht man ja in Italien. Die Leute halten sich jedenfalls gut an die Ausgangsbeschränkungen, es ist kaum wer auf den Straßen unterwegs. Einmal fährt eine Funkstreife an uns vorbei, wir gehören aber offenbar für jedermann sichtbar einem gemeinsamen Haushalt an, deshalb bleiben wir unbehelligt und können unsere Wanderung fortsetzen.
Wir halten uns nach dem „Bierwirt“ rechts, gehen die 100 Meter lange und leicht ansteigende Straße hinauf bis zum Winkelfeldsteig (Flurname). Der ist zu Beginn noch links und rechts von Häusern gesäumt, später geht er in einen reinen Feldweg über. Im Garten eines dieser Häuser, auf der rechten Seite, habe ich als Kind ein großes Schiff stehen gesehen. Das hat sich jemand selber gebaut, irgendwann war es weg. Ich hoffe sehr, dass mir da nicht Traum und Wirklichkeit durcheinanderkommen, denn ich habe ein bisserl recherchiert, aber nichts rausgekriegt. Vielleicht weiß ja ein Leser mehr über dieses Schiff am Winkelfeldsteig …
Normalerweise ist das hier ein vielbegangener Spazierweg, noch dazu bei diesem schönen Wetter. Heute begegnen wir nur einer einzelnen Familie, später kommen uns noch zwei Jogger entgegen. Kurz nach dem Übergang von Asphaltstraße zu Feldweg steigt linkerhand eine steile Böschung zur Autobahn hinauf. Auf diesem „Mini-Berg“ bin ich unzählige Male Ski fahren und rodeln gewesen, wir wohnten ja nur einen Steinwurf (na ja, eher drei Steinwürfe) entfernt in der Philippine-Welser-Straße (Landesfürstin, 1527–1580). Und die machen wir gleich im Anschluss, schließlich verläuft sie parallel zum Winkelfeldsteig. Wir beginnen an der Kreuzung mit der Amraser Straße und natürlich gibt es für mich hier keinen Meter, der nicht mit Erinnerungen gepflastert ist. Gleich einmal am Anfang der Straße liegt rechts die Kirche der Mormonen und da wurden wir als Kinder von unserem Vater in die „Sonntagsschule“ geschickt! Er hatte Besuch von zwei Mormonen bekommen, viele können sich an die paarweise in Anzug und Krawatte durch Innsbruck radelnden, jungen, meist amerikanischen Männer erinnern. Und er konnte dem verlockenden Angebot nicht widerstehen, dass die Mormonen aus seinen Buben anständige Menschen machen würden. Also pilgerten wir halt hin zur „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, so nennen sich die Mormonen in der Langfassung. Der Spaß währte nur kurz, nach der zweiten Session sind wir nicht mehr hingegangen, für derlei Agitation waren wir völlig unempfänglich. Vater war es dann auch egal, das Thema Mormonen wurde nie mehr erwähnt.
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