
Abbildung 9: Kruckenkreuz (Wikipedia)
Mehrere Veranstaltungen des Katholikentags fanden im Praterstadion statt. Im Vorfeld der 2. Arbeiter-Olympiade erbaut (der Grundstein wurde am zehnten Jahrestag der Ersten Republik gelegt 86) und 1931 eröffnet, war das Stadion ein zentraler Veranstaltungsort der Sozialdemokratie und der Arbeitersportbewegung, nicht nur für Sportereignisse, sondern auch für Manifestationen und Festveranstaltungen. 87Nach einem Wettbewerb, den Otto Ernst Schweizer gewonnen hatte, wurde es mit seiner aufwändigen Stahlbetonkonstruktion und den umgebenden Sportanlagen zu einem Denkmal des Roten Wien, zum Inbegriff sozialdemokratischer Fortschrittlichkeit und Wiener Freizeitkultur. In einem 1935 herausgegebenen Jubiläumsband zum 100-jährigen Bestehen des Stadtbauamts (dessen Beamte wenige Jahre zuvor die Erbauung und Eröffnung des Stadions im sozialdemokratischen Kontext miterlebt hatten) wurde das Stadion jedoch politisch so neutral präsentiert, als wäre es schon immer dagewesen. 88
Beim Katholikentag 1933 wurde das Stadion besonders nachdrücklich neu kodiert. Hier hatte ein halbes Jahr zuvor die letzte Maikundgebung der Ersten Republik stattgefunden. 89Am 10. September fand hier die Hauptversammlung des Katholikentags statt, mit einem Zug der Ostmärkischen Sturmscharen, einer 1930 gegründeten paramilitärischen Truppe, deren Fahnen wieder „aus dem Geiste altchristlicher Symbolik“ gestaltet waren. 90Hier sprach Bundeskanzler Dollfuß über die Errichtung eines „christlich-deutschen Staats“. Am 10. September mittags wurden 40.000 Bauern während einer Festmesse auf Kirche und Regime eingeschworen, 91nachmittags folgte die Aufführung des als Massenspektakel inszenierten Weihespiels „St. Michael führe uns!“ von Rudolf Henz. Unter anderem trat dabei eine rote Fahnen schwingende, Arbeiter darstellende Gruppe auf, die vor dem Kreuz zurückschreckte und das Feld räumte. Danach wurde die katholische Jugend Christus geweiht. 92Eine derart nachdrückliche Bespielung mit Weihespielen, Messen, Bekenntnis- und Schwurveranstaltungen sollte das Stadion, bis dahin unter anderem auch Spielort der „Wunderteam“ genannten österreichischen Fußballnationalmannschaft, nachdrücklich im öffentlichen Bewusstsein umdeuten.
Unweit des Stadions, am Trabrennplatz in der Krieau, hielt Bundeskanzler Dollfuß am 11. September 1933 seine Grundsatzrede zum autoritären Umbau des Staates. Der Termin zugleich mit dem ersten Generalappell der Vaterländischen Front hatte mehrfachen „Befreiungs“-Bezug: Es war der Vorabend des Jubiläums der Befreiung Wiens von den Osmanen, die als „Horden aus dem Osten“ als ebenso unchristlich gebrandmarkt werden konnten wie die ebenfalls aus dem Osten kommende Gefahr des Bolschewismus, vor denen das katholische Österreich Europa ebenso bewahren wollte wie 1683. 93Außerdem galt die im Mai 1933 als Nachfolgerin der Christlichsozialen Partei gegründete Einheitspartei der Vaterländischen Front den Machthabern als Befreiung von Demokratie und Parlamentarismus, wie Dollfuß in seiner Rede betonte. 94
Der 1878 eröffnete Trabrennplatz in der Krieau im Wiener Prater war bis dahin kein politisch konnotierter Ort gewesen. Die Entscheidung für ihn hat wahrscheinlich mit seiner Nähe zum Messegelände und zur Rotunde zu tun, die als Monumentalbau für die Wiener Weltausstellung 1873 erbaut worden war und dadurch Wien als Weltstadt repräsentierte. Außerdem hatte in der Rotunde im September 1912 der Eucharistische Kongress stattgefunden, eine katholische Großveranstaltung, die mehrere Details des Katholikentags 1933 vorweggenommen hatte: die Anwesenheit eines päpstlichen Kardinallegaten, die Inszenierung als Massenspektakel und eine spektakuläre und sehr erfolgreiche sakrale Musiktheatershow, das „Mirakelfestspiel“. 95In den Augen der Machthaber mag diese historische kirchliche Nutzung der Rotunde ihre an sich liberal motivierte Entstehung überschrieben haben. Außerdem signalisierte die 25. Wiener Herbstmesse 1933, die in der Rotunde zeitgleich mit dem Katholikentag stattfand, dass die „Talsohle der Weltwirtschaftskrise durchschritten war“. 96Der Trabrennplatz lag genau in der Achse der (1937 abgebrannten) Rotunde, deren über 100 Meter hohe, weithin sichtbare Kuppel den monumentalen Hintergrund für die Kanzlerrede darstellte.
Nach der Kundgebung zogen die Anwesenden zum Burgtor, einem weiteren habsburgisch-militärischen Erinnerungsort, wo ein großes historisches Türkenzelt aufgebaut war. Dort, unweit des Reiterdenkmals des Prinzen Eugen, eines weiteren populären barocken Türkenhelden im Dienste Habsburgs, nahm der Kanzler das Defilee der Vaterländischen Front ab. Irene Nierhaus hat darauf hingewiesen, dass dieser Ort beim Wien-Besuch des polnischen Papstes Johannes Paul II. anlässlich des Katholikentags 1983 nochmals ähnlich instrumentiert wurde: Zum 300. Jubiläum der Türkenbefreiung wurde die Papsttribüne neben dem Prinz-Eugen-Denkmal aufgestellt, als „geschichtliche Bezugnahme zum Szenarium“. 97Bei dieser Gelegenheit wurde auch dem Porträtmedaillon des polnischen Königs Jan Sobieski, der das Entsatzheer 1683 befehligt hatte, an der Kirche auf dem Kahlenberg ein Relief-porträt des polnischen Papstes zugefügt. 98Hier erschließt sich eine deutliche Kontinuität in die Zweite Republik.
In Zusammenhang mit den recht salopp „Türkenbefreiungsfeiern“ – eigentlich war es das osmanische Heer unter der Leitung Kara Mustafas gewesen, das Wien belagert hatte, – rückte der Kahlenberg, Ort der Entsatzschlacht von 1683, bei dem die Osmanen geschlagen worden waren, in den Mittelpunkt. Beide Berge sind darüber hinaus auch dynastische Erinnerungsorte. Am Leopoldsberg befindet sich die landesfürstliche Burg der Babenberger, die als Herzöge Vorläufer der Habsburger und über Leopold III. den Heiligen mit der Gründungslegende des bedeutenden, nahe gelegenen Augustiner-Chorherrenstift Klosterneuburg verbunden waren. Im Stift befindet sich auch das Grab des Babenbergers. Die Kirchenstiftung Kaiser Leopolds I. von 1679 auf dem Leopoldsberg war der habsburgische Eintrag in die Memorialtopografie des Ortes. Hier (und nicht auf dem heutigen Kahlenberg) hat der Kapuzinerpater Marco d’Aviano die berühmte Messe vor der Entsatzschlacht gelesen, 99bei der der polnische König ministriert haben soll. D’Aviano befand sich den ganzen Tag vor Ort, gehört daher auch zum Personal des austrofaschistischen Türkenbefreiungskults und erhielt bald ein eigenes Denkmal, wie auch Kahlenberg und Leopoldsberg durch die Errichtung der Höhenstraße durch das Regime gewürdigt werden sollten. – Der heutige Kahlenberg wurde von Kaiser Ferdinand III., einem der Protagonisten der Gegenreformation in Österreich, mit einem Kamaldulenserkloster bestiftet, an dessen Kirche St. Josef sich zahlreiche Bezüge zu den Ereignissen von 1683 finden. Alljährlich werden dort bis heute polnische Gedenkfeiern zu den Jahrestagen der Schlacht abgehalten.
Neben der Nutzung ideologisch genehmer und vorteilhafter Erinnerungsorte sollte das Regime in der Folge eine teilweise radikale, teilweise erstaunlich halbherzig gedachte „damnatio memoriae“ an den symbolhaften Orten seiner politischen Gegner durchführen. Mangels entsprechender Manifestationen der Nationalsozialisten betraf das ausschließlich sozialdemokratische Orte und Erinnerungsmale. Diese Aktionen konnten allerdings erst nach dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) infolge der Ereignisse des Februar 1934 beziehungsweise nach der Erlassung der neuen Verfassung am 1. Mai 1934 durchgeführt werden. 100

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