Über das Buch:
H. C. Artmann war einer der großen Dichter des deutschsprachigen Raumes – ein fantasievoller Schriftsteller und Sprachspieler.
Als er im Dezember 2000 verstarb, trauerte die literarische Welt. Einer seiner langjährigen Freunde und Wegbegleiter – Michael Horowitz – zeichnet in dieser Annäherung an den außergewöhnlichen Autor ein bewegtes Leben nach: vom Rebellen der 1950er-Jahre und dem kometenhaften Aufstieg dank der Dialektgedichte „med ana schwoazzn dintn“ über seine „wilden“ Wanderjahre bis zum fulminanten Gesamtwerk.
Dieses Buch ist eine erweiterte, redigierte Neufassung zum 100. Geburtstag von H. C. Artmann am 12. Juni 2021. Die vergriffene Erstausgabe mit dem Titel „Annäherung an den Schriftsteller und Sprachspieler“ erschien vor 20 Jahren in diesem Verlag.
Die Neuauflage dieses Buches will den Dichter und Menschen näherbringen, aber auch die wilden Zeiten, die sein Leben prägten. In Berlin, Graz und Salzburg, aber vor allem in Wien. Mit seinen Freunden Friedrich Achleitner, Konrad Bayer, Gerhard Rühm und Oswald Wiener. Mit Heimito von Doderer und Helmut Qualtinger, Wolfgang Bauer, Peter Rosei und Peter Turrini.
Ich danke Rosa Artmann für das Gespräch über H. C., das wir im Dezember 2020 führten.
WER SIND WIR?
VIRTUOSER SCHRIFTSTELLER UND FANTASIEVOLLER SPRACHSPIELER
ohne ende seine stolze feuerkunst möge verzaubern
BONVIVANT UND BÜRGERSCHRECK AUS BREITENSEE
Begegnungen mit einem Menschen voller Tatendrang und Traurigkeit
REISEN IM WINDSCHATTEN DER POESIE
Späte Ehrungen und ein aschenleichter Tod
AN DER BREITENSEER BASSENA
Bauchfleisch, Bösendorfer-Flügel und der Bomber der Nation
MELODIE DER PERIPHERIE
Chinesen, Dämonen, Vampire und die Riesenwirtin
MELDEZETTEL DER KINDHEIT
Breitenseer Budl-Busen und Zorro, der Rächer der Würstelmänner
KEINE KERZEN, KEINE KOHLEN – ABER HOFFNUNG
Stalin-Spenden, Schleichhandel und die Vier im Jeep
WAS HALTEN SIE VON JAMES JOYCE?
Der Dritte Mann, der g’schupfte Ferdl und der Journalist Johannes Mario Simmel
KNIETIEF IM KAFFEEHAUS
Im Wartesaal des Ruhms – zwischen Buchteln und der Erotik spezieller Körperfalten
EIN NETZ AUS SPERMIENFÄDEN
Admiral Tegetthoff und die Poetisierung der Welt
DIE BOHEMIENS VON WIEN
Savoir-vivre im Souterrain und Schmähführen im „Strohkoffer“
IM CLUB DER TOLLEN DICHTER
Von poetischen Proclamationen und alkoholbunten Sprachartisten
DIKTATUR DER PROGRESSIVEN JUGEND
Halbstarke und Heidegger, Besäufnisse und Barockliteratur
GEFÄHRDUNG DURCH HIASLN UND NEBOCHANTEN
Der Dialektdichter, die Muse Moni und Maggiwürfel
NUA KA SCHMOEZ NED
Das Donauweibchen, Woo-Doo-Zauber und bitterschwarze Gedanken
UNTERWEGS AUF DEM RÜCKEN EINES WALFISCHES
Wanderjahre, Waldmeister-Bowle und der Verlag Artmann & Artmann
ABENTEUER IM KOPF
Marlene Dietrich und die barocke Schwermut des Dr. H. C. H. C. Artmann
DER WIND, DER WIND, DAS HIMMLISCHE KIND
Der Büchner-Preis für den „Staatskünstler und Sozialschmarotzer“
AUSKLANG
„Die Zukunft war noch nie ein Baiser mit Schlag“
WERKVERZEICHNIS
Rosa Artmann im Gespräch mit Michael Horowitz, 15. Dezember 2020
Michael Horowitz: H. C. beschreibt seine literarische Figur John Hamilton Bancroft als einen „gut aussehenden Gentleman, unabhängig und wagemutig“, sah er sich auch so?
Rosa Artmann: Auch, aber nicht nur, je nach Stimmung … das hing von der Lebensphase ab, in der er sich befand. Jedenfalls war es ein Bild, das ihm gefallen hat.
Was war die wagemutigste Zeit in seinem Leben?
Er war Deserteur im Krieg. Das unerklärliche Phänomen, wer überleben darf und wer nicht, war ihm immer bewusst – da hat er wahrscheinlich auch mit weißer Magie begonnen. Und sich gefragt, warum gerade er auserwählt war, zu überleben.
Wie schafft man jahrzehntelang den Alltag mit so einem Mann – auch bei Dichtern gibt es ja einen Alltag …
Alltag mit einem Dichter ist Alltag mit einem Menschen.
H. C. war ein Dichter, für den „die Sprache eine erogene Zone ist“, ein leidenschaftlicher Mensch … wie würdest du ihn beschreiben?
Wie ortet man einen Dichter? Er stellte sich die Frage „Wer sind wir?“ Erst über Sprache existiert die Welt für den, der sie benützt, und wie er sie verwendet. Er war sprachbesessen, wie ich es auch bin. Doch weil Sprache vielfältig ist und viele Ebenen hat, gibt es verschiedene Sprachbesessenheiten. Das war eine gegenseitige Herausforderung und Begrenzung.
Hat H. C. dich zum Schreiben gebracht?
Ich weiß es nicht. Vielleicht hat er meine Sehnsucht für mich gelebt, bevor ich zu schreiben begonnen habe. Ob das ein Erklärungsmuster ist, weiß ich ebenso nicht.
Es gab so manche „Muse“ während seiner Wanderjahre im Ausland, du warst sein Anker. Kann man das so sagen?
Muse? Anker? Diese Begriffe verwende ich nicht. Wir haben die Ehe auf unsere Weise gelebt. Unsere Verbindung war unverbrüchlich, ein seelisches und herzgemäßes Erkennen. Zwei Schicksale, die wir mit unserer geliebten Tochter Emily gelebt haben.
H. C. Artmann hat 1974 den Großen Österreichischen Staatspreis, 1997 den Büchner-Preis bekommen und ist in Salzburg zum 70. Geburtstag zum Ehrendoktor ernannt worden. Sind die Auszeichnungen zu spät gekommen?
Besser spät als nie.
Wie habt ihr euch kennengelernt, was war dein erster Eindruck von H. C.?
Ich habe ihn das erste Mal im Gasthaus „Lückl“ in der Leonhardstraße in Graz gesehen. Das war 1972. Ich habe ihn als H. C. Artmann erkannt, weil wir im Gymnasium „med ana schwoazzn dintn“ gelesen hatten. Das war die erste Begegnung.
Hat er auf dich anziehend gewirkt?
Anziehend fand ich ihn, als ich ihm Monate später im „Walfisch“ am Berliner Savignyplatz begegnet bin. Ich habe damals in Berlin gelebt und Gerald Bisinger gekannt, der an jenem Abend H. C. treffen wollte und mich gefragt hatte, ob ich mitkommen will.
Wenn man heute Menschen fragt, womit H. C. Artmann berühmt wurde, werden die meisten sagen: „med ana schwoazzn dintn“ .
Damit ist er in Wien berühmt geworden. Dass die „dintn“ so eingeschlagen hat, lag daran, dass Dialekt nach dem Krieg verpönt war … Dialekt steht ja soziologisch eigentlich immer für Armut. Dialekt hat nur der sogenannte niedere Stand gesprochen, für das Bürgertum und die Aristokratie war er meistens tabu. Er selbst ist ja auch nach dem Krieg äußerst arm gewesen. Die „dintn“ war ein Experiment, wie man Dialekt literarisieren kann, in einer Form, dass sich das sogenannte Volk darin emotional erkennt. Wien eignet sich mit seiner barocken Tradition, seiner Melancholie und seiner Todessehnsucht dafür. Das Wienerische hat Metaphern, die man in die sogenannte Hochsprache nicht annähernd übersetzen kann. Und das Volk lebt Literatur in seinen Metaphern. Das Volk. Die Menschen. Gespräche ergeben immer wieder neue literarische Formen, die dann ein Berufener auch in ein Gedicht transformieren kann.
Wurde er nicht auch oft missverstanden oder falsch interpretiert?
Ja. Er hat gesagt: „Ich bin immer nur das Gefäß.“ Und dieses „Ich“ war für ihn alles andere als narzisstisch oder für seine Person als Funktion in der Gesellschaft gedacht. Überhaupt nicht. Oft wurde er missverstanden. In jeder Gesellschaft wird Bescheidenheit, vor allem bei Hab und Gut, missinterpretiert. In verschiedensten Rollen hat er Spiegelbilder der Gesellschaft vorgelebt, die aufzeigen sollten, welche Funktionen wir in der Gesellschaft einnehmen. Das war sein gelebtes politisches Manifest. Er war ein Menschenliebender und hat versucht, Hierarchien nicht nur zu unterwandern, sondern sie auch aufzuzeigen. Auch in seiner Literatur – eine Interpretation von mir …
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