Es sind sprachlich pointierte Bekenntnisse eines Reisenden, der erst spät Ruhe findet: „Meine heimat ist österreich, mein vaterland europa, mein wohnort malmoe, meine hautfarbe weiss, meine augen blau, mein mut verschieden, meine laune launisch, meine raeusche richtig, meine ausdauer stark, meine anliegen sprunghaft, meine sehnsuechte wie die windrose … im grunde traurig, den maedchen gewogen, ein grosser kinogeher, ein liebhaber des twist, ein uebler schwimmer … im kriege zerschossen, im frieden zerhaut, ein hasser der polizei, ein veraechter der obrigkeit … schuechtern am anfang, schneidig gen morgen, abends stets durstig … mit lissabonerinnen ueber stiegen gekrochen … mit glasgowerinnen explodiert und durchs dach geflogen … bernerinnen vergoettert, an pragerinnen herangetreten … masken verfertigt, katakomben gemietet, feste erfunden, wohnungen verloren, blumen geliebt, schallplatten verwüstet … nasen gebrochen, parapluies stehengelassen … mickey spillane gelesen, goethe verworfen, gedichte geschrieben, scheiße gesagt … alles was man sich vornimmt, wird anders als man sichs erhofft …“
Als H. C. Artmann, der inzwischen hochgeschätzte ewige Grenzgänger zwischen Realität und Fantasie, im November 1974 den Großen österreichischen Staatspreis für Literatur überreicht bekommt, stellt Minister Sinowatz den „Poeten der Gesellschaft, der immer verdächtig bleiben muss“ in eine Reihe mit Heimito von Doderer, Fritz Hochwälder und Alexander Lernet-Holenia. Der festliche Staatsakt findet im barock-prunkvollen Rahmen der Hofburg statt. Eigentlich hatte sich der Geehrte das Palmenhaus, draußen in Schönbrunn, als Ort der Verleihung gewünscht: „Aber wenigstens war meine Mutter dabei. Sie hat sich nicht neben mich in die erste, sondern in die dritte Reihe gesetzt. Und sie hat viel gelacht.“
Nachher, im Wirtshaus, meinte der Preisträger: „Morgen früh fahr ma alle raus nach Dornbach. Und besuchen den Konrad Bayer. Den Preis soll er bekommen, nicht ich. Mit dem Fiaker fahr ma raus auf ’n Friedhof und weiße Orchideen um zehntausend Schilling streu ma ihm aufs Grab. Und dann schrei ma: Konrad, kräul ausse, du Arschloch …“
AN DER BREITENSEER BASSENA
Bauchfleisch, Bösendorfer-Flügel und der Bomber der Nation
Im Jahr 1921 erreicht die Inflation mit 573 Prozent Geldentwertung einen neuen, dramatischen Höhepunkt. Banknoten im Wert von 200 Milliarden Kronen kursieren. Doch kaufen kann man sich um das viele Geld nur wenig: Ein Kilo Schweinefleisch kostet 1000, ein Kilo Speck 1700 Kronen. Wegen der uferlosen Teuerungen kommt es in Wien zu Plünderungen. Spekulanten und „Hamsterer“ beherrschen das Straßenbild.
In ganz Österreich gibt es „Hungerdemonstrationen“ – in Leoben sterben dabei fünf Menschen. In Graz demonstrieren schon im Jahr zuvor Tausende Hausfrauen gegen die horrenden Obst- und Gemüsepreise. Bei diesem „Kirschen-Rummel“ sterben 15 Menschen. Drastische Lebensmittel-Einschränkungen machen die Menschen wütend und aktiv: Anlässlich einer „fleischlosen Woche“ wird von den Behörden statt Fleisch „einmalig ein achtel Kilo Haferreis pro Person“ zugeteilt. Als dann das Gerücht kursiert, dass man wieder Fleisch bekomme, sammeln sich ab vier Uhr früh an die 10.000 Menschen vor den Toren der Großmarkthalle. Die Notvorräte – 2700 Kilogramm gefrorenes Rindfleisch, 800 Kilogramm Würste und 280 Kilogramm Köpfe und Füße vom Schwein sind innerhalb weniger Minuten verkauft. Der Zorn der Masse eskaliert: „Mehr als hundert Personen“, wird im Polizei-Protokoll vermerkt, „liefen in die Kühlanlagen, sprengten mehrere Kühlkammern und plünderten die eingelagerten Fleisch- und Fettvorräte.“
Im täglichen Kampf gegen den Hunger versucht auch das Wiener Bürgertum, irgendwie zu überleben: Mit prall gefülltem Rucksack fährt man hinaus aufs Land. Bei den Bauern im Waldviertel oder in der Buckligen Welt werden Familienschmuck gegen Eier, Perserteppiche gegen Butter und Antiquitäten gegen Bauchfleisch eingetauscht. Und so mancher Bösendorfer-Flügel aus einem Cottage-Haushalt landet als Tauschobjekt für eine Sau in Tulln.
Im Roman „Die Welt von Gestern“ beschreibt Stefan Zweig die Folgen der Rückkehr zum Tauschhandel: „Erst waren die Bauern glücklich über das viele Papiergeld, das ihnen für ihre Eier und ihre Butter ins Haus regnete. Sobald sie aber mit ihren vollgestopften Brieftaschen in die Stadt kamen, um dort Waren zu kaufen, entdeckten sie, dass die Sense, der Hammer, der Kessel, den sie kaufen wollten, unterdessen das Zwanzigfache oder Fünfzigfache im Preis gestiegen war.“
In Wien herrschen Hunger und Not, pure Verzweiflung, die Angst, ob man die nächsten Tage überleben werde. Die medizinische Versorgung ist elend, die Kindersterblichkeit extrem hoch. In der Scheinwelt von Operetten-Verfilmungen mit „süßen, schwärmerischen, duftenden Melodien“ und Dreigroschen-Romanen im Ärzte- und Aristokraten-Ambiente versucht man, kurzfristig den Sorgen zu entfliehen, das Elend des Alltags zu verdrängen.
Man versucht, das Beste aus dem Leben zu machen. Die Frauen verabschieden sich vom engen Korsett der Rollenbilder des 19. Jahrhunderts. Man betreibt Sport, entwickelt eine offenere Einstellung zur Sexualität, legt sich einen flotten Bubikopf zu und studiert die Modeseiten mit den simplen Schnittbögen zum Selberschneidern: Als „Herbstkleidchen für unsere Backfische“ wird ein „schlichtes Jumperkleid mit angesetztem Faltenrock“ empfohlen. Und „die moderne lange Jacke arbeitet man passend zum Kleid und erhält so ein hübsches Complet für die kommenden, kühlen Tage …“
Manch mutige Frau nimmt an einer Wahl zur Schönheitskönigin teil. Man braucht nur sein Foto an die Zeitung zu schicken: Beim Gewinnspiel der „Illustrierten Kronen-Zeitung“ werden anlässlich der Wahl zur „schönsten Frau des Landes“ insgesamt vier Millionen Kronen verlost.
Die Männer finden beim Fußball Zerstreuung: bei den Heimspielen von „Wacker“, „Rapid“, „Slovan“, dem „Hütteldorfer AC“ oder beim Ländermatch: Auf der Simmeringer Had schlägt Österreich vor mehr als 40.000 Zuschauern den Erzrivalen Ungarn mit 4:1 Toren. Allerdings ohne ein Tor von Josef Uridil. Jenes Rapid-Stürmers, der im Meisterschaftsspiel gegen den WAC sieben (!) Tore geschossen hat. Abends tritt der Bomber der Nation regelmäßig in einem Schwank der „Roland Bühne“ auf. Während der Pause wirbt er für Limonade und Likör, Seifen und Zuckerln. Hermann Leopoldi würdigt den geschäftstüchtigen Sportler in einem Schlager, der zum Gassenhauer wird: „Heute spielt der Uridil …“
Am 12. Juni 1921 kommt Hans Carl Artmann in der Wiener Vorstadt, im 14. Hieb , in Penzing, in Breitensee, zur Welt. In der Kienmayergasse 43. Auf Tür Nummer 8 im ersten Stock. Er wächst in einem schmalen Kabinett mit Fenster auf die Gasse auf: „meine kinderstube war zwar bescheiden ich bin bei erdäpfelsuppe und zwetschkenknödel aufgewachsen allein ich habe immer danach getrachtet ein mensch zu bleiben der nirgends aneckt …“
Der Vater ist weder „Handlungsreisender“ noch „Seemann“ – wie sich das der Sohn wünscht. Jahrzehnte später beschreibt er in den Gedichten „von der wollust des dichtens in worte gefasst“ immer wieder die Sehnsucht nach Abenteuern in weit entfernten, exotischen Ländern. Mit dem Vater gibt es schon früh außergewöhnliche Erlebnisse. Vor der Haustür in Breitensee: „vis-à-vis vom hubenyschuster, wo zu fronleichnam der erste altar steht.“ Oder „beim Österreicher oben“, wo sich in dem alten Haus ein „gefährlicher geheimgang“ befindet. Mit einem Loch, „das geht hundert meter in die erde hinunter und wasser ist auch drin. der letzte rest vom breiten see, sagt mein papa …“
1946, im Alter von 49 Jahren, stirbt Vater Johann Artmann. Im Ersten Weltkrieg granatverschüttet, sind seine Hände erfroren. Trotzdem stellt der Schuster Johann Artmann sogar Schischuhe her. Mutter Marie glaubt schon während der Schwangerschaft zu wissen, dass „mein Kind ein Dichter wird“. Und Artmann sagt später, dass er vieles von ihr habe, „… alle Wehwehchen, alles Witzige, das Treuherzige, auch das Nicht-Warten-Können, die Angst, dass etwas passiert, und das Poetische.“
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