Impressum
Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.
Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt: Fürsorge-, Wohlfahrts- und Kulturstiftung der Bürgergemeinde Zug, Hürlimann-Wyss Stiftung Zug, Ulrico Hoepli-Stiftung
Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.
Umschlagbild
Die Geschwister Luise und Leopold um 1900.
Lektorat
Rachel Camina, Hier und Jetzt
Gestaltung und Satz
Naima Schalcher, Zürich
Bildbearbeitung
Benjamin Roffler, Hier und Jetzt
Druck und Bindung
Eberl & Kœsel GmbH & Co. KG, Altusried
Dank an
Nicola Behrens
Otmar Elsener
Thomas Glauser
Simone Koller
Isabelle Marcon
Bruno Meier
Christoph Mijnssen
Michaela Prinzinger
Brigitte Schmid
Denise Schmid
Pia Schubiger
Nadine Schwald
Judith Stadlin
Josef Strickler
Karmela Wigger
Harry Ziegler
Margrith Zobrist
Michael van Orsouw ist Schriftsteller und promovierter Historiker. Schon in «Blaues Blut. Royale Geschichten aus der Schweiz» (2019) paarte er Faktentreue mit erzählerischer Leichtfüssigkeit und vermittelte royale Inhalte auf höchst unterhaltsame Weise.
ISBN Druckausgabe 978-3-03919-533-6
ISBN E-Book 978-3-03919-981-5
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
www.brocom.de
© 2021 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz
www.hierundjetzt.ch
Das kann unmöglich ein Schauspieler sein.
Zwar trägt der Mann einen makellos weissen Tropenanzug, aber er befindet sich nicht auf Safari.
Sondern mitten in Berlin.
Er stakst so ungelenk über die Bühne, als hätte er noch nie zuvor eine Theaterrolle gespielt.
Er ist der Neuling auf der Bühne, der Anfänger, obwohl er ergraut und bestimmt schon fünfzig Jahre alt ist. Trotz aller Unbedarftheit hat ein renommiertes Blatt gerade ihn als den «Gipfel aller Sensation» angekündigt.
Weil er so unbegabt ist?
Weil sich hier einer zur Belustigung des Publikums zur Schau stellt?
Der peinlich wirkende Darsteller mobilisiert die Massen. Er sagt im Stück nicht viel mehr als «Bitt’ schön, meinerseits, ganz meinerseits!». Doch das genügt schon, um verlegen zu wirken.
So wenig.
Und das Publikum tobt.
Die eine Hälfte lacht.
Die andere Hälfte schämt sich für ihn.
Das Stück «Hoheit kehrt wieder!» hat auf der Berliner Kabarettbühne Die Rakete den «Gipfel» erklommen. Wir schreiben das Jahr 1921, Krieg und Krise sind überstanden, Berlin will sich auf rund 180 Kabarettbühnen und in den Varietétheatern amüsieren. Angesichts dieser sehr lebendigen Berliner Kleinkunstszene hat das Prädikat «Gipfel aller Sensation» grosses Gewicht, gerade wenn es vom Berliner Brettl-Brief stammt.
Denn der Brettl-Brief spiegelt wöchentlich die deutsche Kabarettszene, liefert Informationen, giesst aber auch viel Häme und Spott über die Welt der Berliner Bühnen, allseits «Brettl» genannt. Das Lob für die «Rakete» bezieht sich darauf, was Theaterdirektor Siegbert Wreschinski mit grossen Lettern im elektrisch beleuchteten Schaukasten vor dem Theater annonciert hat: das Stück «Hoheit kehrt wieder!» – veredelt mit dem exklusiven Bühnenauftritt «Seiner Hoheit». Wirklich beispiellos für die halbseidene Varietészene.
Der neue Bühnenstar ist niemand anders als eine europäische Hoheit höchstpersönlich, nämlich der «Kaiserliche Prinz und Erzherzog von Österreich, Königlicher Prinz von Ungarn und Böhmen, Grossherzog von Toskana und Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies». In halb Europa bekannt und berüchtigt, sorgt er unter seinem bürgerlichen Namen Leopold Wölfling immer wieder für Furore und Schlagzeilen.
Mit der vollmundigen Ankündigung hat der geschäftstüchtige Wreschinski, der «Kabarettkönig von Berlin», für einmal mit keinem Wort übertrieben: Denn der angepriesene Adlige tritt wirklich in der «Rakete» auf, in diesem kleinen, schummrigen Kabarettlokal, das hinter dem bekannten Kurfürstendamm in einer Seitenstrasse liegt.
Ein echter Royal in einem solchen Etablissement? Dort, wo zuvor der Skandalstar Anita Berber mit wilden Nackttänzen von sich reden gemacht hat?
Das sieht nach einem tiefen Fall des kaiserlichen Prinzen aus. Und das ist es auch.
Was das Ganze noch schlimmer macht: Der Adlige Leopold spielt nicht im Kabarett mit, weil er sich neu orientiert und auf eine ernsthafte Karriere als Schauspieler aspiriert.
Nein. Er gehorcht der Not.
Er braucht dringend die Auftrittsgage.
Deshalb ist es einerlei, wie schlecht er spielt.
Hauptsache, das Publikum strömt ins Varietétheater.
Leopold Wölfling, der ehemalige Erzherzog Leopold Ferdinand, ist zwei Mal geschieden und hat mit seiner Familie gebrochen; er sitzt dermassen in der Bredouille, dass er sich für Geld sogar zum Affen macht.
Er bietet ein erbärmliches Schauspiel als Revuestar. Drei Österreicherinnen senken nach der Vorstellung nur noch ihre Köpfe und weinen. So sehr schämen sie sich für den Habsburger.
Auch Leopolds Schwester Luise, ehemalige Herzogin von Habsburg-Toskana und Kronprinzessin von Sachsen, geht sehr emotional durchs Leben und heult viel. Während ihr Bruder in der Berliner Tingeltangel-Szene seine peinlichen Auftritte absolviert, wohnt sie zurückgezogen in einem Vorort von Brüssel, an der Avenue des Klauwaerts 19 in Ixelles. Sie ist 51-jährig, geht aber vornübergebeugt wie eine Achtzigjährige und versteckt ihr Gesicht hinter grossen Hüten mit breiten Krempen.
Die vorzeitig gealterte Frau hat viel Pech gehabt in ihrem Leben; und wie ihr Bruder ist sie bereits zwei Mal geschieden. Sieben Kinder brachte sie zur Welt, zu denen sie kaum Kontakt hat. Das erfüllt sie mit grosser Trauer und lässt sie immer wieder wegträumen.
Die älteren sechs Kinder, die sie mit dem letzten Sachsenkönig, Friedrich August III. hat, wuchsen ohne sie beim Vater und am Hof in Dresden auf; jetzt wohnen sie in ganz Deutschland verteilt. Der jüngste Sohn, den sie mit dem italienischen Musiker und Komponisten Enrico Toselli gezeugt hat, lebt ebenfalls weit entfernt von ihr. Er ist bei seinem Vater in Italien gross geworden und lebt jetzt in Florenz.
Zeitlebens war die einstige Prinzessin von einem grossen Hofstaat mit Bediensteten, Banketten und von edlen Festen umgeben; nun darbt sie in einem bescheidenen Reihenhaus mit einer einzigen Angestellten, die ihr die Treue hält.
Zwar gibt es in Luises Wohngemeinde Ixelles eine Prachtsallee mit dem Namen Avenue Louise. Doch diese Paradestrasse wurde nicht nach ihr benannt, sondern nach Prinzessin Louise, der Tochter König Leopolds II. von Belgien. Unsere Luise ist hier in Brüssel ein «No Name», in Vergessenheit geraten und dem internationalen Adel, dem sie angehörte – und dem sie einst mit einem grossen Skandal den Atem raubte –, egal. Ein Skandal, der sich in der Schweiz ereignete und die Zeitungsspalten in ganz Europa füllte. Luise hielt damit Adelswelt, Geheimpolizei, Rechtsanwälte, Reporter und Ärzteschaft auf Trab.
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