»Es scheint, dass wir Tür für Tür abklappern und darauf hoffen müssen, noch einen pflichtbewussten Angestellten beim Leichenwaschen anzutreffen«, stellte Lisa lapidar fest. Die Bemerkung raubte Zigerli das letzte bisschen Motivation. Gerade als Lisa bei der ersten Tür ansetzen wollte, ging zwei Räume weiter eine solche auf. Auf den Gang trat eine vollständig in Weiß gekleidete Frau im mittleren Alter. Bei genauerem Hinsehen erkannten Lisa und Zigerli, dass die Kleidung doch nicht ganz weiß war. Überall befanden sich rote Spritzer. Es war davon auszugehen, dass es sich um Blutspritzer handelte.
»Was suchen Sie hier?«, raunte die Frau. Sie sprach mit einem starken slawischen Akzent. Ihre Körpersprache und ihr Tonfall sagten indessen: »Raus hier.«
»Das wird nicht einfach, auch mit Trachsels Bewilligung«, konstatierte Lisa.
»Wir kommen von der Berner Kriminalpolizei, Dezernat Leib und Leben. Hier ist ein Schreiben von Oberkommissar Trachsel. Wir wollen uns nochmals die Leiche der heute eingelieferten jungen Frau von der Kirchenfeldbrücke ansehen.«
»Da gibt es nichts mehr zu sehen«, blaffte die Frau in Rot-Weiß. »Die Leiche war mehr ein Fleischhaufen als ein Personenkörper. Sie ist bereits eingesargt. Der Sarg ist verschlossen.«
»Jälva skit! 1 1 schwedisch und bedeutet so viel wie »verdammter Mist» 2 Italienisch und bedeutet wörtlich »Maschine«, sinngemäss »Auto»
Die Einsargung war erst für morgen früh geplant. Haben Sie denn keine Dienstvorschriften?«
»Bleiben Sie schön auf dem Boden. An der Leiche gibt es nichts mehr zu untersuchen. Die Todesursache steht eindeutig fest: Sturz aus großer Höhe. Ich würde sagen, mindestens 50 Meter ist die gute Frau runtergesaust.«
»Die gute Frau war meine Schwester. Danke, dass Sie so respektvoll von ihr sprechen.«
»Oh, das tut mir leid«, stammelte die sichtlich beschämte Rechtsmedizinerin.
»Machen Sie sich keinen Kopf. Sie können mir helfen, indem Sie den Sarg nochmals öffnen.«
»Das geht nicht. Den Sarg könnte höchstens mein Vorgesetzter, Professor Entomon, öffnen. Der ist aber vor knapp zwei Stunden in den Zug nach Zürich gestiegen. Er reist zu einem internationalen Cnidarien-Kongress.«
»Cnida… was?«, stammelte Lisa.
»Cnidarien sind Nesseltiere. Dazu gehören zum Beispiel verschiedene Quallenarten, Korallen und Seeanemonen. Ich kann Ihnen einzig den Obduktionsbericht aushändigen. Die Leiche wurde sorgfältig und professionell von uns untersucht. Alle Erkenntnisse stehen in dem Bericht. Und ich garantiere Ihnen, Sie würden nichts finden, was wir nicht bereits entdeckt haben.« Lisa konnte es nicht fassen. Nur wenige Meter von den sterblichen Überresten ihrer Schwester entfernt sollte sie diese nicht mehr zu Gesicht bekommen. Es entsprach ganz und gar nicht ihrem Naturell, in solchen Situationen klein beizugeben. Fieberhaft überlegte sie, was sie noch tun könnte. Es fiel ihr nichts ein. Kein Gedanke, keine Idee. Von Zigerli kam auch nichts. Der Flopp des Tages.
»Also gut, dann geben Sie uns bitte den Obduktionsbericht«, hörte sich Lisa sagen. Dabei wäre sie am liebsten in den Kühlraum gerannt und hätte den Sarg ihrer Schwester einfach aufgebrochen.
Zwei Minuten später saßen Lisa und Zigerli an einem Tisch im Obduktionssaal Nummer zwei und brüteten über dem dreiseitigen Obduktionsbericht. Wie jeder Tod, welcher nicht auf ein natürliches Geschehen zurückzuführen war, wurde auch Siris Ableben als sogenannter außergewöhnlicher Tod eingestuft. Jeder der jährlich gegen 1000 außergewöhnlichen Todesfälle im Kanton Bern musste von Gesetzes wegen einer Leichenschau unterzogen werden. Dabei handelte es sich um eine ärztliche Besichtigung einer verstorbenen Person mit dem Ziel, die ärztliche Todesbescheinigung auszustellen. Die Leichenschau erforderte die persönliche Untersuchung des entkleideten Leichnams zwecks Feststellung von Todeszeichen und Verletzungen. Der Arzt musste ferner Gewissheit über die Identität der verstorbenen Person haben und die Todeszeit schätzen.
Lisa schauderte. Man musste eine dicke Haut besitzen, um einen solchen Job zu meistern.
Wie nicht anders zu erwarten, enthielt der Bericht nur nüchterne und zähe Rechtsmedizinerphrasen. Dazu das übliche Chirurgenchinesisch. Auch wenn sich im Dokument etwas Auffälliges befand, Lisa und Zigerli würden dies kaum entdecken.
»Multiple Frakturen des Corpus femoris rechts. Conquassatio von Schien- und Wadenbein beidseits«, las Lisa.
Die beiden Ermittler kämpften sich tapfer durch das Dokument.
»Blasen wir die Übung ab. Ich lade dich zu Roastbeef und Pommes ins Restaurant Schwarzwasserbrücke ein«, versuchte Zigerli, Lisa auf andere Gedanken zu bringen.
»Ich fasse es nicht. Da versucht man, die letzte Chance auf Aufklärung des Todes seiner Schwester zu nutzen, und du denkst an nichts anderes als ans Fressen«, fauchte die kurz vor einer Explosion stehende Lisa. Eigentlich war sie schon explodiert. Ihr tat die impulsive Antwort bereits in dem Moment leid, als sie diese Zigerli an den Kopf warf. Die Reaktion verfehlte ihre Wirkung nicht. Zigerli knickte ein wie ein umgemähter Grashalm.
»Ich habe es nicht so gemeint, Thomas, aber der Bericht ist die letzte Chance, vor der Bestattung von Siri noch etwas herauszufinden.«
Kaum hatte Lisa die Situation zwischen ihr und ihrem Kollegen beruhigt, hörten sie, wie sich die Tür zum Obduktionssaal öffnete und die Rechtsmedizinerin mit dem roten Dalmatinerkittel verkündete, dass das Institut in fünf Minuten schließe und sie den Obduktionsbericht wieder zurückhaben müsse.
»Geben Sie uns noch zehn Minuten«, bat Lisa verzweifelt.
»Das geht leider nicht. Ich bin mit meiner Tochter verabredet, wir fahren ins Emmental zum Essen. Im Restaurant Rössli in Schafhausen gibt es heute Kalbsnieren, so viel man essen mag. Tut mir leid, maximal vier Minuten.«
Lisa fragte sich, wie jemand den ganzen Tag Leichen obduzieren und am Abend Kalbsnieren essen konnte. Dabei vergaß sie weiter zu verhandeln. Erst als hinter der hinauseilenden Rechtsmedizinerin die Tür wieder krachend ins Schloss fiel, fasste Lisa wieder einen klaren Gedanken. Ein seriöses Studium des Dokuments war nicht mehr möglich. Am liebsten hätte sie einfach drauflos geheult. Zigerli blätterte gerade auf Seite zwei, als Lisa ein komischer lateinischer Ausdruck in die Augen sprang.
»Hydrurus foetidus (goldbraune Alge)« stand in der viertuntersten Zeile auf der zweiten Seite des Berichts. Rasch überflog Lisa den gesamten Abschnitt. Im Haar von Siri wurden offensichtlich Teile dieser Alge gefunden. Die Alge kam in kleinen bis mittelgroßen Flüssen im Schweizer Mittelland vor.
Kleine bis mittelgroße Flüsse, ging es Lisa weiter durch den Kopf. Intuitiv hätte Lisa Siri mit der Aare in Verbindung gebracht, auch wenn die Leiche neben dem Fluss gefunden worden war. Die Aare war aber kein kleiner bis mittelgroßer Fluss. Sie war der längste gänzlich innerhalb der Schweiz verlaufende Fluss.
Ein großer Fluss.
Vielleicht kommt die Hydrurus Alge auch in der Aare vor?«, spekulierte Lisa. Dennoch, eine innere Stimme flüsterte ihr zu, dass hier etwas nicht zusammenpasste. So sehr sich Lisa bemühte, die Ungereimtheit zu konkretisieren, ihr fiel nichts ein.
»Ich muss Sie jetzt endgültig bitten, das Institut zu verlassen«, beendete die Kalbsnierenliebhaberin die Gedankenspiele von Lisa.
Außerhalb des Instituts warteten finstere Dunkelheit und bittere Novemberkälte auf Lisa und Zigerli.
»Ein paar Pommes in der Schwarzwasserbrücke wären doch keine schlechte Idee«, meinte Lisa plötzlich kleinlaut zur großen Überraschung von Zigerli. Der ließ sich in Aussicht auf ein schon entschwunden geglaubtes leckeres Abendessen nicht zweimal bitten.
Die Algengeschichte beschäftigte Lisa auch während des Essens. Am Tisch herrschte Stille.
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