Yeichel wagte einen Blick auf die Straße. Aus dem Augenwinkel sah er einen Deutschen mit Schnauzbart, der eine große Kiste in das Haus gegenüber schleppte und kurze Zeit später ohne sie wieder herauskam. Auf sein Rufen hin flüchteten sich die übrigen Soldaten in nahe gelegene Toreinfahrten, warfen sich zu Boden oder gingen hinter der nächsten Ecke in Deckung.
Dann ertönte ein Knall und eine gewaltige Feuersbrunst schoss aus den Fenstern des gegenüberliegenden Gebäudes. Yeichel sah, wie Trümmer und Leichenteile auf die Straße regneten. Die Explosion hatte das Nachbarhaus mitsamt den Juden, die sich darin versteckt hielten, in Schutt und Asche zerlegt. Yeichels Augen weiteten sich. So etwas hatte er noch nie zuvor gesehen. Sein Herz galoppierte. Er spürte, dass der entscheidende Moment nun gekommen war.
»Feuer«, rief er, »mäht diese Hunde um!«
Die Rebellen schossen. Ein rauschender Kugelhagel prasselte auf die Deutschen ein, und inmitten des tödlichen Pfeifkonzerts der Projektile suchten die Soldaten panisch nach Schutz. Auch Yeichel zielte auf die uniformierten Männer drei Stockwerke unter ihm. Dabei war er so sehr auf sie konzentriert, dass er den Mann, der sich inmitten der Trümmer hinkniete und seinen Karabiner anlegte, zu spät entdeckte.
Wieder ein plötzlicher Knall. Yeichel spürte, wie ihn etwas getroffen haben musste. Sofort ließ er sein Gewehr fallen und tastete nach der Wunde am Hals. Blut lief zwischen seinen Fingern hindurch, er konnte es nicht aufhalten. Nur ein Röcheln entkam seinem Mund. Yeichel sah an sich herunter. Dunkles, dickflüssiges Blut quoll aus seinem Hals und bildete eine Lache auf dem Boden.
»Oh mein Gott!«, hörte er Ruzka schreien.
Ihr angsterfüllter Blick war das Letzte, das Yeichel Scheinbaum zu sehen bekam, bevor er in sich zusammenfiel.
*
»Nein, warte! Das ist viel zu –«
»Hoch«, wollte er sagen. Doch seine Warnung war vergeblich. Kopfüber sprang Ruzka durch das offene Fenster im Treppenhaus hinaus in den Innenhof.
Leipke hörte einen dumpfen Aufprall. Um nachzusehen, blieb ihm keine Zeit. Auch er musste so schnell wie möglich raus aus diesem Haus. Hierzubleiben wäre sein sicheres Todesurteil. Deswegen schob er seine Sorgen um Ruzka beiseite und sprintete weiter die Treppen hinunter.
Im Erdgeschoss angekommen, wagte Leipke einen vorsichtigen Blick um die Ecke. Zu seiner Rechten lagen deutsche Soldaten zwischen den Trümmern in Stellung und feuerten unablässig auf das Fenster der Wohnung, aus der die Rebellen sie beschossen hatten. Doch deren Gegenwehr wurde immer schwächer.
Er musste weitergehen, ermahnte Leipke sich in Gedanken. Schaute nach links und blickte in das kantige Gesicht eines deutschen Gefreiten.
»Stehen bleiben!«, befahl ihm der Soldat. Offensichtlich überrascht, dass ihm einer der Rebellen direkt in die Arme gelaufen war, ließ er vor Schreck beinahe sein Gewehr fallen.
Leipke zögerte nicht. Wie eine Raubkatze sprang er dem Deutschen an den Hals. Schlug ihm schnell hintereinander mehrmals ins Gesicht, bis seine Nase brach und ihn der Schmerz kurzzeitig lähmte. Leipke nutzte diese Gelegenheit, zerrte mit aller Kraft an dem Bajonett, das an der Koppel des Gefreiten befestigt war, zog es aus der Scheide und rammte die Klinge so fest er konnte in die Brust des Mannes, der nun unter ihm lag und wild um sich schlug. Die Stichverletzung ließ ihn seine letzten Kräfte mobilisieren. Er schlug weiter um sich, versuchte, Leipke zu treffen und so von ihm herunterzustoßen. Doch Leipke wehrte ihn ab, presste eine Hand auf seinen Mund und stieß das Bajonett noch einmal in seinen Oberkörper hinein. Blut quoll zwischen Leipkes Fingern hervor, und damit war die Gegenwehr gebrochen. Der Kopf des Soldaten kippte zur Seite. Ein letztes Zucken, dann war es vorbei. Leipke sah ihn sich genauer an. Er war jung, keine zwanzig Jahre alt. Glatte Wangen, keine Falten.
Eine Detonation riss Leipke aus seinen Betrachtungen. Ihm blieb nicht viel Zeit. Sofort öffnete er den Verschluss des Stahlhelms und riss ihn dem Toten vom Kopf. Falls die Deutschen auf ihn schossen, würde er ihn sicherlich gebrauchen können. Genauso wie das Bajonett. Mit einem beherzten Ruck zog er es wieder aus der Brust des Toten heraus, wischte die Klinge an dessen Uniform ab und befestigte es notdürftig an seinem Hosenbund. Anschließend durchwühlte er sämtliche Taschen. Stopfte zwei Packungen Nil-Zigaretten, mit denen man auf dem Schwarzmarkt hervorragend handeln konnte, unter sein Hemd und nahm den Mauser-Karabiner mitsamt dem letzten Munitionsstreifen an sich.
Gerade als Leipke sich wieder aufrichten wollte, traf ihn ein Gewehrkolben an der Schläfe. Zum Ausweichen war es zu spät.
*
Die Deutschen erwarteten ihn am Tor. Grob packten die Gestapo-Männer ihn an den Armen, öffneten eine der hinteren Türen ihres Dienstwagens, drückten seinen Kopf herunter und stießen ihn anschließend auf die Rückbank.
Durch das Fenster des Mercedes warf Jakob Gens einen Blick die Szpitalna-Straße hinunter. Das Getto, das für ihn jahrelang gleichbedeutend mit dem jüdischen Volk gewesen war, lag hinter ihm – sowohl räumlich als auch zeitlich. Nun war es zu einem Teil seiner Vergangenheit geworden. Ein seltsames Gefühl hatte ihn beschlichen, als die Gestapo-Männer ihn durch die Straßen geführt hatten. Denn zum ersten Mal hatte Gens sich tatsächlich wie ein Fremder gefühlt in der Stadt, die schnell zu seiner Heimat geworden war – und das, obwohl es den früheren Hauptmann der Reserve, der in der Gegend um Kaunas aufgewachsen war, erst 1940 zusammen mit seiner Familie hierhergezogen hatte.
An diesem Morgen hatte Gens’ deutscher Kontaktmann ihm die Pläne der Gestapo verraten. In deren Augen hatte Gens versagt, denn als Leiter des Gettos, zu dem er Mitte des vergangenen Jahres nach der Auflösung des Judenrats ernannt worden war, wäre es seine Aufgabe gewesen, den Partisanen den Garaus zu machen. Daran war er spätestens seit dem begonnenen Aufstand nachweislich gescheitert.
»Fliehen Sie auf der Stelle in den Wald«, hatte der Kontaktmann ihm deshalb eindringlich empfohlen.
Doch Gens hatte eine andere Entscheidung getroffen. Er war sich sicher, dass sein Verschwinden den Juden schaden würde – und damit hätte er dem einzigen Ziel, dem er sich von Anfang an verschrieben hatte, zuwidergehandelt: nämlich, das Getto um jeden Preis zu erhalten. So hatte er in dem Glauben, die Bewohner zu schützen, Alte und Kranke an die Deutschen ausgeliefert und sich sogar an der Zerstörung ganzer Dörfer beteiligt. Tausende Menschen hatten durch sein Handeln ihr Leben lassen müssen, und trotzdem war Gens nach wie vor davon überzeugt, dass es ohne ihn noch unzählige mehr gewesen wären. Ob er in einer anderen Zeit ein Held gewesen wäre? Ob die nachfolgenden Generationen sich wohl an ihn erinnern würden? Wenn ja, wie würden sie seiner gedenken?
Nach kurzer Fahrt erreichten sie das Gestapo-Gefängnis in der Rosa-Straße. Ein junger, schneidiger Unteroffizier namens Müller nahm Gens in Empfang.
»Mitkommen«, befahl er. Er führte den Chef der jüdischen Polizei an den Zellen vorbei auf einen Hinterhof, wo eine Reihe uniformierter Soldaten mit hochgekrempelten Ärmeln auf sie wartete. Mit Schaufeln, die in einem hüfthohen Erdhügel steckten, hatten sie ein Loch ausgehoben, dessen Größe und Form nur einen einzigen Schluss zuließ.
»Umdrehen«, befahl Müller forsch.
Nachdem Gens ihm den Rücken zugewandt hatte, fesselte der Unteroffizier seine Hände. Dann spürte er etwas Kaltes am Hinterkopf. Es musste die Mündung der Walther-Pistole sein, die der Deutsche ihm in den Nacken bohrte.
Gens schloss die Augen. Ein letztes Mal erschien ihm seine Frau. Er sah sie vor sich, wie sie sein Gesicht in beiden Händen hielt und ihm zart und flüchtig auf die Stirn küsste. »Hab keine Angst«, sagte sie, »schon bald werden wir uns wiedersehen.«
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