Ein plötzlicher Schrei holte sie zurück.
»Feuer!«, befahl der deutsche Unteroffizier. Ließ seinen Arm nach unten fallen wie das Beil eines Henkers und gab damit den Soldaten das Zeichen zum Abdrücken. In dem Bruchteil einer Sekunde riss die Salve die Menschen von den Beinen. Als Janina sah, wie Yaron getroffen fiel, brach auch sie zusammen, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggerissen. Nur kurz spürte Janina den schmerzhaften Aufprall eines Gewehrkolbens, mit dem der Soldat in ihrem Rücken sie ohnmächtig schlug.
*
Abba konnte nicht glauben, was er da hörte. Mit leuchtenden Augen rückte er dicht an den Empfänger heran. Ihn lauter zu drehen, wäre zu riskant gewesen, denn den Juden war der Besitz von Radios und Telefonen strengstens verboten.
Davon ließ sich der Oberleutnant der FPO jedoch nicht beirren. Nacht für Nacht verbarrikadierte Abba sich in einem Keller im Getto, mehrere Meter unter der Straße. Rauchte eine Zigarette nach der anderen und hörte SWIT, den Rundfunksender des Untergrunds. In der Hoffnung, irgendein Lebenszeichen von außerhalb des Gettos zu erhalten.
Manchmal, wenn Vitka und Ruzka ihn begleiteten, ließ Abba sogar Musik laufen. Dann tanzten sie miteinander die Nächte durch, vergaßen für ein paar Stunden den quälenden Hunger, der sie schwächte, die Strapazen des Waffenschmuggels und die schwindende Hoffnung darauf, dass die Juden sich ihnen, den Rebellen, eines Tages anschließen und gegen die Deutschen kämpfen würden. Seltene, deshalb aber umso süßere und ungetrübtere Freude. Hinterher kam es vor, dass Abba sich manchmal schuldig fühlte, weil die Menschen im Getto niemals solche Momente, sondern nur tägliches, grenzenloses Leid erlebten. Ein Gefühl, das ihn auch befiel, als er von der Racheaktion in Oszmiana erfuhr. Eines der Rebellenmädchen, die auf seinen Befehl die Dörfer in der Umgebung abklapperten, hatte ihm die erschütternde Botschaft überbracht: Im Schutz der Nacht war die SS in das Dorf einmarschiert und hatte alle Bewohner erschossen. Alte und Junge, Männer und Frauen, Kinder und Neugeborene. Danach hatten sie sämtliche Häuser in Brand gesteckt und waren wieder abgezogen. In dem Dorf schwelte noch tagelang das Feuer. So blieben von Oszmiana nur Erinnerungen übrig. Als Vergeltung für den ersten Anschlag der FPO, die Sprengung des Wehrmachtszuges, hatten die Deutschen das Dorf von der Landkarte gelöscht.
Jetzt, als die Stimme des Ansagers im Empfänger knisterte, empfand Abba hingegen nichts als Begeisterung. »Achtung, Achtung! Hier spricht der polnische Widerstand. Seit heute, neunzehnter April 1943, befindet sich das Warschauer Getto im Aufstand.«
Zitternd vor Aufregung lauschte Abba den folgenden Ausführungen. Mit jeder weiteren Information funkelten seine Augen immer heller. Sie sprachen von Schusswechseln. Davon, dass die Warschauer Rebellen geschmuggelte Maschinengewehre einsetzten und zahlreiche deutsche Soldaten töteten. Von Molotowcocktails, die durch den Himmel schwirrten und ihn mit gleißenden Stichflammen erhellten. Von Bewohnern, die – aus ihren Hinterhalten feuernd – den Kugelhagel auf ihre Unterdrücker richteten.
Da war sie endlich. Die lang ersehnte Revolte, zu der Abba auch die Warschauer Juden gedrängt hatte. Zuria war erfolgreich gewesen: Vor einem Jahr hatte Abba das Mädchen nach Polen geschickt, damit sie den dortigen Zionisten vom Massaker in Ponary erzählte und seine Rede vom Silvesterabend vorlas. In Abbas Augen war es besser, als freier Mensch zu sterben, als durch die Gnade seines Mörders weiterzuleben. Das sollte sie ihnen mitteilen, und anscheinend hatten seine Worte nun Früchte getragen. Jetzt würden ihm hoffentlich auch die litauischen Juden folgen, dachte Abba.
*
Zielstrebig marschierte sie auf das Gettotor zu.
Anna Borkowskas Herz trommelte wie verrückt. Ein Gefühl, als würde es augenblicklich aus ihrer Brust springen. Der Judenstern, den Schwester Dalia an ihren Mantel genäht hatte, vibrierte bei jedem Schlag. Trotz der winterlichen Temperaturen lief warmer Schweiß unter ihrem Kopftuch an den Schläfen herunter. Für sie als gläubige Christin war es ein beklemmendes Gefühl, den Judenstern zu tragen. Nicht nur, weil sie sich dadurch selbst in Gefahr begab, sondern weil auch sie nun zum ersten Mal die Unterdrückung spürte, die mit ihm verbunden war. Die Entwürdigung, die permanente menschliche Herabsetzung. Wie grausam musste es wohl für die Menschen sein, die ihn jeden Tag zu tragen gezwungen waren. Es war Anna Borkowska nun klar, dass sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Wenn sie sich den Juden im Getto schon nicht anschließen konnte, dann würde sie ihren Kampf zumindest mit allen Mitteln unterstützen. Koste es, was es wolle. Denn so hatte sie Gottes Auftrag verstanden.
Trotzdem durfte sich die Mutter Oberin ihre Aufregung nicht anmerken lassen. Ihr Auftreten musste natürlich und selbstverständlich wirken. So, als wäre sie wirklich nur eine bettelarme, schüchterne Jüdin, die von der Plackerei in einer der Fabriken der Stadt nach Hause kam.
Jetzt, als es nur noch wenige Meter bis zu der Menschenschlange vor ihr waren, vernahm Anna die herrischen Stimmen der jüdischen Polizisten. So unauffällig wie möglich beobachtete sie die Männer bei ihrer Arbeit. Sah zu, wie sie mit finsteren Mienen einen nach dem anderen zu sich riefen und abtasteten. Mit dem, was Anna in ihrer Hose versteckte, würden sie sie direkt aussortieren. Würden sie an die Gestapo weiterleiten, was ihren sofortigen Tod bedeutete.
Doch sie hatte eine Eintrittskarte, und diese Eintrittskarte hieß Chajm. Chajm Goldmann – ein Junge an der Schwelle zur Volljährigkeit, den die FPO bestochen hatte. Ob es Gottes Wille war, dass sein Name auf Hebräisch »Leben« bedeutete? Denn er, der sich wegen der Privilegien freiwillig für die jüdische Polizei gemeldet hatte, würde darüber entscheiden, ob die Mutter Oberin weiterleben durfte – oder sterben musste.
Hoffentlich hatten sie sie ihm ausreichend beschrieben, dachte Anna. Spätestens wenn Chajm bei der Kontrolle erfühlte, was sie ins Getto zu schmuggeln versuchte, würde die Stunde der Wahrheit schlagen.
»Der Nächste!«, rief der schmächtige junge Mann.
Anna stellte sich vor ihn und verschränkte die Hände hinter ihrem Kopf. An einer Hauswand auf der anderen Straßenseite glaubte sie ihre Kontaktfrau zu erkennen. Wenn alles nach Plan verlief, würde Anna von ihr, die mit bangen Blicken zu ihr herübersah, zum Hauptquartier des Widerstands geführt werden. Dorthin, wo die Kämpfer bereits sehnsüchtig auf ihre Lieferung warteten.
Die Betonung lag auf »wenn«.
»Führst du etwas bei dir, Jude?« Chajms kräftige Stimme schoss durch Annas Körper. Es fühlte sich an, als würde er sie mit seinem Blick durchbohren. »Sag’s besser gleich. Wir finden es sowieso.«
Anna schüttelte den Kopf. Wieder rann Schweiß an ihren Schläfen herunter. Sie konnte einfach nicht aufhören zu schwitzen.
»Gut«, sagte Chajm und startete sein Kontrollprogramm. Tastete zunächst ihre angewinkelten Arme ab, dann Kopf, Nacken, Hals und Schultern. Wanderte an ihrem Oberkörper herunter, bis er zu ihrer Hüfte und zu ihren Oberschenkeln kam. Und schließlich zu der Stelle, an der Schwester Dalia die Handgranaten mit Tüchern festgebunden hatte.
Chajm stoppte. Sein Blick schoss nach oben.
Anna schloss ihre Augen und betete. Noch nie hatte sie Gottes Barmherzigkeit so sehr gebraucht wie jetzt.
*
Leider hatte Abba mit seiner Vermutung recht behalten: Sie hätten Jakob Gens nicht über den Weg trauen dürfen. Wie ihr Anführer vorhergesagt hatte, waren sie von diesem elendigen Verräter in eine hinterlistige Falle gelockt worden.
Leipke stand nur wenige Meter vom Hauptgebäude der jüdischen Polizei in der Szpitalna-Straße entfernt und beobachtete den Ausgang. Ähnlich wie Vitka war auch er die Idealbesetzung für Aufträge wie diese, denn dank seiner kräftigen Statur, seiner blonden Haare und seiner blauen Augen sah er exakt so aus, wie die Deutschen sich einen Arier vorstellten.
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