Daniel Wehnhardt
Zorn der Lämmer
Roman
Gibt es ein Recht auf Rache? Abba, Vitka, Ruzka und Leipke haben das Grauen überlebt: Zusammen mit der Roten Armee ziehen die vier Freunde als Befreier in ihre Heimatstadt Wilna ein. Zwei Jahre später verbindet die jungen Juden vor allem eins: das Verlangen nach Gerechtigkeit. In Tarvisio, einer kleinen italienischen Stadt im Kanaltal, treffen sie auf Soldaten der Jüdischen Brigade und beteiligen sich an deren Vergeltungsaktionen. Abba, dem charismatischen Dichter, ist die Erschießung von Nazi-Tätern jedoch nicht genug. Unter seiner Führung gründen Gleichgesinnte die Rächergruppe Nakam. Fortan verfolgen die Männer und Frauen einen tödlichen Plan: Durch ihn sollen genauso viele Deutsche wie Juden im Holocaust sterben. Was sie jedoch nicht ahnen: Mächtige Gegenspieler im Hintergrund setzen alles daran, den Massenmord zu verhindern …
Daniel Wehnhardt, 1984 in Fürstenhagen geboren, studierte in Kassel Spanisch und Politikwissenschaften. Seine Romane handeln von politischen Verschwörungen, Rechtsterrorismus und der Macht der Wirtschaft. In seiner Freizeit widmet er sich der Literatur und den asiatischen Kampfkünsten. »Zorn der Lämmer« ist sein Debüt im Gmeiner-Verlag. Mehr Informationen: www.danielwehnhardt.de
In diesem Roman verbinden sich Fakten und Fiktion.
Die meisten Personen tragen ihre richtigen Namen und sind –
soweit es die Recherche erlaubte – in ihrem Handeln historisch
korrekt wiedergegeben. Vereinzelte Figuren und deren Handlungen
sind frei erfunden, sodass Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten
Personen rein zufällig und nicht beabsichtigt sind.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Sven Lang
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © T.Den_Team / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-6816-2
Wherever the murderer may hide away,
There shall we be, night and day,
Our eyes will be fixed on him
As the sunflower follows the sun.
In his innermost rooms are we,
As the shadow that clings to his steps,
We are in the poison dormant
In the slender, hollow needle.
Nathan Altermann
Im Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus.
Möge ihr Vermächtnis uns allen eine
ewige Verantwortung sein.
Als Sarah zu sich kam, hörte sie nur ein leises Wimmern.
Sofort schossen mehrere Fragen durch ihren Kopf. Was war bloß mit ihr passiert? Warum lag sie hier in dieser Grube? In einem Meer von steifen, kalten, leblosen Körpern. Umhüllt von einer Wolke des Gestanks nach Blut, Kot und Urin.
So roch der Tod, dachte Sarah.
Stück für Stück setzte sich ihre Erinnerung wieder zusammen. Da war diese herrische Stimme gewesen, die ihr befohlen hatte, sich auszuziehen. Der Tritt gegen den Unterschenkel, der sie auf die Knie fallen ließ, und die prankengleichen Hände, die ihre Arme gewaltsam hinter ihrem Kopf verschränkten.
Dann die ratternden Schüsse eines Maschinengewehrs.
Das Letzte, an das sie sich erinnerte, waren der Ausdruck in den Augen ihrer Mutter und ihre geflüsterten Worte: »Vertraue auf Gott, denn er weist dir den Weg.« Im Gegensatz zum Rest der Familie war ihre Mutter schon immer sehr gläubig gewesen.
Sarah versuchte sich zu bewegen. Sie durfte keine weitere Zeit verlieren. Unverzüglich musste sie sich auf die Suche nach den anderen begeben. Aber wo waren sie nur geblieben? Hatten Gott oder das Schicksal es mit ihnen genauso gut gemeint wie mit ihr? Hatte außer ihr sonst noch jemand überlebt?
Plötzlich hörte Sarah in der Ferne Männer grölen. Waren das etwa … Soldaten? Auf jeden Fall waren es Deutsche, das erkannte sie am Klang ihrer Stimmen. Sie näherten sich. Begleitet von Gelächter und dem Geräusch klirrender Flaschen.
Am Rand der Grube angekommen, zückten die Männer ihre Maschinenpistolen. Luden durch … und feuerten hinein. Pfeifend schossen die Kugeln an Sarahs Kopf vorbei. Panisch vor Angst presste sie beide Hände auf ihren Mund. Der leiseste Mucks würde sie verraten.
Kurz darauf verstummten die Pistolen. Sarah hörte, wie einer der Männer seine Hose herunterließ. Sekunden später ging warme Flüssigkeit auf ihr nieder und lief an ihrem Rücken und an ihrer Brust hinab. Erneutes Gelächter hallte von oben herunter. Weitere Männer pinkelten in die Grube und verschwanden anschließend in der Dunkelheit.
Minutenlang blieb Sarah liegen. Bewegte sich keinen Zentimeter und lauschte stattdessen aufmerksam in die Schwärze der Nacht. Während sie betete, dass dieser Albtraum bald vorbei sein würde, fraß sich die Kälte durch ihre urin- und blutgetränkten Lumpen. Eine Ewigkeit verging, bis das Grölen endgültig verstummt war.
Sarah robbte vorsichtig an den Rand der Grube heran. Kroch so behutsam wie möglich über Rücken, Arme, Beine und Gesichter und zog sich mit letzter Kraft aus dem Loch heraus.
Vor ihren Augen erstreckte sich der Wald. Zu ihrer Überraschung sah er in der Dunkelheit beinahe friedlich aus. Als ob er die Todesangst nicht verspürte, die sie und die anderen durchlitten hatten, als sie von den Soldaten mit Maschinenpistolen in ihn hineingeführt worden waren.
Auf einmal wieder das Crescendo deutscher Stimmen. Fluchend kämpften sich die Soldaten einen Weg durch das Dickicht zurück zur Grube, und obwohl Sarah nicht verstand, was sie sagten, ließ der Klang ihrer Sprache das Blut in ihren Adern gefrieren. Ob sie bemerkt hatten, dass jemand mit dem Leben davongekommen war? Wenn ja, würden sie nun überall nach ihr suchen?
Sie musste sich verstecken, dachte Sarah. Jetzt oder nie. Denn eine Flucht würde ihr nicht gelingen, das spürte sie. Dafür waren die Deutschen zu viele, und außerdem würde sie durch das Unterholz zu langsam vorankommen. Zweifellos wäre sie früher oder später in Schussweite der Maschinenpistolen.
Mit riesigen Schritten hetzte sie in den Wald. Suchte Schutz zwischen den Bäumen, während ihr Herz raste und sie am ganzen Körper zitterte. Hektisch atmete sie ein und aus, sodass Atemwolken aus ihrem Mund schossen und sich auflösten in der Nachtluft.
Bei diesem Anblick kam Sarah auf eine Idee. Aber ob sie funktionierte? Sie musste es wenigstens versuchen. Den immer lauter werdenden Stimmen nach zu urteilen, blieben ihr nur noch wenige Minuten, bis die Soldaten wieder in ihrer unmittelbaren Nähe sein würden.
Deshalb stieß Sarah ihre Hände in die Erde hinein und grub wie besessen in den Boden. Ihre Fingernägel rissen ein, Blut quoll hervor, aber sie machte weiter, bis vor ihren Augen Sterne tanzten.
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