Aus diesem Grund fiel er auch den beiden SS-Männern, die zusammen mit Wittenberg aus dem Gebäude kamen, nicht auf. Indem er vortäuschte, in eine andere Richtung zu sehen, observierte Leipke aus dem Augenwinkel jede ihrer Handlungen. Sah zu, wie sie dem Löwen, wie Wittenberg bei den Rebellen hieß, schwere Ketten anlegten, die auf dem Boden schleiften. Er beobachtete, wie sie im Gänsemarsch auf das Gettotor zustrebten, vor dem ein dunkelgrauer Mercedes mit laufendem Motor auf sie wartete.
Dann war der Moment gekommen. Leipke holte tief Luft und blies kurz und kräftig in seine Trillerpfeife. Erschrocken schossen die SS-Männer zu ihm herum.
Shmuel, der auf dieses Zeichen gewartet hatte, nutzte den Moment ihrer Unaufmerksamkeit, sprang aus einer dunklen Seitenstraße, stürzte sich auf sie und versetzte ihnen mit einem Brecheisen blitzschnell zwei Schläge auf den Hinterkopf. Während die SS-Männer daraufhin benommen zu Boden sanken, winkte er hektisch Leipke herbei.
»Los, wir müssen von hier verschwinden«, befahl er und warf Wittenberg zur Tarnung einen Mantel über. »Wir haben nicht viel Zeit. Hier wird’s gleich vor Gestapo nur so wimmeln.«
Mit vereinten Kräften packten sie den Löwen unter den Armen und schleppten ihn in die Straschun-Straße. In den Keller des Hauses, in dem sich neben dem Hauptquartier des Widerstands sowie dem Waffenlager auch eine Werkstatt befand. Dort angekommen, schnappte Shmuel sich eine Metallsäge und befreite Wittenberg von den Ketten. Gemeinsam warteten sie darauf, dass die anderen wie verabredet eintreffen würden. Eine Viertelstunde später kamen sie an.
Leipke errötete, als Ruzka ihn erneut mit diesem für sie so typischen, warmen Blick begrüßte. Seitdem er sie bei Abbas Ansprache an Silvester im Keller des Ratsgebäudes zum ersten Mal so leidenschaftlich und wortgewandt erlebt hatte, ging ihm das krausköpfige Mädchen mit dem wippenden Gang einfach nicht mehr aus dem Kopf. Wie er inzwischen herausgefunden hatte, waren sie sogar gleich alt. Was ihm jedoch zu schaffen machte, waren die Gerüchte. Wie viel wohl an ihnen dran war? Ob es tatsächlich stimmte, dass Abba, Vitka und Ruzka eine Dreierbeziehung führten?
»Wir haben keine Zeit zu verlieren«, sagte Shmuel schließlich. Wittenberg, der von der Befreiungsaktion immer noch mitgenommen war, sah ihm reglos in die Augen. »Am besten ziehen Sie das hier an.«
Der Löwe kauerte sich auf einen Hocker, streifte sich das Kleid über, das sie ihm organisiert hatten, und band sich ein Tuch um den Kopf. Um seine Verwandlung perfekt zu machen, schminkten Vitka und Ruzka ihm die Lider und die Lippen. Als sie fertig waren, nickte Shmuel anerkennend.
»Wir müssen den Widerstand in Alarmbereitschaft versetzen«, sagte er. »Falls die Deutschen jetzt das Getto stürmen, werden wir kämpfen!«
*
Keuchend rannte Ruzka dem wütenden Mob hinterher. Durch ihre kurzen Beine war sie jedoch eindeutig im Nachteil, und schon bald drohte sie deshalb den Kontakt zu der aufgebrachten Menschenmenge zu verlieren. Abba, den sie vor sich herjagten, konnte sie kaum noch sehen. In ihrem Rücken lauerten weitere hysterische Bewohner, die ihr dicht auf den Fersen waren.
»Gebt uns Wittenberg!«, skandierten die Leute und bewarfen sie mit Abfall.
Nach der gelungenen Befreiung des Löwen war Murer unverhofft in Gens’ Büro aufgetaucht. Natürlich hatte der Oberst gewusst, dass der Chef der jüdischen Polizei auch Kontakte zum Untergrund pflegte.
»Richte diesen Schädlingen Folgendes aus«, hatte er Gens unmissverständlich befohlen, »entweder sie liefern mir Wittenberg oder ich lasse das Getto liquidieren.« In Windeseile hatte sich seine Drohung wie ein Lauffeuer unter den Bewohnern verbreitet.
Im Morgengrauen entbrannte sich der Zorn schließlich. Die Rebellen waren gerade dabei, sich in ihrem Hauptquartier in der Straschun-Straße zu beraten, als plötzlich eine Scheibe klirrte. Zunächst war nur ein einzelner Stein durchs Fenster geflogen. Kurz darauf ein zweiter, dann ein dritter. Alle warfen sich auf den Boden und schützten mit den Händen ihren Kopf.
Als der Boden großflächig mit Steinen und Scherben bedeckt war, kehrte eine kurze Feuerpause ein. Mutig krabbelte Ruzka auf den Knien zum Fenster und lugte durch den gesplitterten Holzrahmen hinaus auf die Straße. Dort unten hatte sich eine Horde johlender Männer formiert. Lautstark forderten sie Wittenbergs Auslieferung. »Gebt ihn raus! Gebt ihn raus!«, riefen sie unablässig.
»Wir müssen da runter«, sagte Abba.
»Und was willst du tun?«, wandte Shmuel ein. »Hört sich das an, als würden die mit uns reden wollen?«
»Wir müssen es versuchen.« Abba richtete sich behutsam auf und zeigte zum Fenster. »Der Löwe darf ihnen unter keinen Umständen in die Hände fallen.«
Unten angekommen, wurden die Rebellen von wütenden Männern und Frauen empfangen. Ruzka glaubte, unter ihnen sogar ein paar ihrer Freunde ausmachen zu können.
»Du bist ein Fanatiker!«, schrien die Bewohner in Abbas Richtung. Einige versuchten, ihm ins Gesicht zu spucken. »Wir wollen nicht für Wittenberg sterben!«
Auf einmal kam Bewegung in den Mob. Binnen Sekunden roch es auf der Straße nach Blut. Auf beiden Seiten stürzten Menschen zu Boden, kauerten sich schützend zusammen und japsten nach Luft. Eine plötzliche Entladung des Hasses, wie die Eruption eines Vulkans. Eine unbändige Wut, von der Ruzka vermutete, dass sie einzig in der ständigen Angst vor dem Tod begründet war, die über den Bewohnern des Gettos schwebte. Ein Ventil, das nach einem Ablass forderte. Zum Glück gelang es Ruzka, den Schlägen und Tritten auszuweichen.
Doch dann ließen die Angreifer überraschend von den Rebellen ab. Unverrichteter Dinge nahmen sie ihre Beine in die Hand und rannten davon.
»Hinterher!«, krächzte Abba. Obwohl er selbst einige Schläge einstecken musste, hatte er sich trotz seines schmächtigen Körperbaus wacker gehalten. Mühsam quälte er sich auf die Beine, und mitsamt den wenigen, die noch bei Bewusstsein waren, nahm er die Verfolgung auf. Ruzka, die verschont geblieben war, hatte alle Mühe, den Trupp nicht aus den Augen zu verlieren.
Wie entfesselt stürmten die Bewohner nun durchs Getto. Filzten Haus für Haus, durchwühlten alle Zimmer, rissen falsche Wände nieder und durchsuchten jeden Winkel nach Wittenberg. Aus Sicherheitsgründen wusste Ruzka selbst nicht, wo der Löwe sich versteckt hielt. Nicht mal Abba und Glassmann, die beiden Oberleutnants, wussten es. Shmuel, der an der Befreiungsaktion des Löwen beteiligt gewesen war, hatte ihn an einem streng geheimen Ort untergebracht.
Dann tauchte Wittenberg mit einem Mal auf der Straße auf. Der Mob hatte seinen Unterschlupf ausfindig gemacht. Der Löwe sprintete aus der Dachkammer, in der er sich versteckt gehalten hatte, verließ das Haus durch die Hintertür und rannte ins Freie. Als wäre die Stimmung nicht schon aufgebracht genug gewesen, lieferte sein Erscheinen nun den Startschuss für eine wilde Hetzjagd. Quer durchs Getto.
Bis Ruzka aus der Ferne plötzlich einen Trupp jüdischer Polizisten ausmachte. »Halt!«, wollte sie Wittenberg zurufen. Doch der Löwe hätte sie nicht gehört, und so musste Ruzka machtlos zusehen, wie er weiter auf die Polizisten zustürmte. Als sie ihn erkannten, stellten die jungen Männer sich dreiecksförmig auf, wie ein menschlicher Keil, und zückten ihre Schlagstöcke. Doch bevor der Löwe ihnen in die Arme lief, zog er in vollem Lauf eine Pistole hervor, zielte auf die Köpfe der Männer – und drückte ab.
Der Knall schoss Ruzka durch den ganzen Körper und ließ sie an Ort und Stelle erstarren.
*
Während er sich in dem Raum umsah, ließ Isaak Wittenberg die kleine Kapsel durch seine Finger wandern. Schon vor Stunden hatten sie ihn hierhergebracht. In ein Hinterzimmer im Hauptquartier der Gestapo, das sich in der prachtvollen, von Bäumen und luxuriösen Geschäften sowie noblen Lokalen gesäumten Vilnius-Straße befand. Hatten ihn zunächst durch einen langen Flur und schließlich in diese leere, fensterlose Kammer geführt. Als er sie betrat, empfing ihn der finstere Blick Adolf Hitlers, dessen übergroßes Porträt wie eine ständige Drohung an der Wand hing.
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