Diese Einsicht brachte die Szene vor meinen Augen in die richtige Perspektive. »Irgendetwas ist da faul«, sagte ich, ohne mich von dem Fenster abzuwenden, während unzusammenhängende Beobachtungen sich zusammenfügten, um ein Bild zu ergeben.
Maya Jervois wollte etwas sagen, aber Manohar gab ihr zu verstehen, leise zu sein. Ich starrte an ihrem Spiegelbild im Fenster vorbei auf den schwarzen Land Cruiser, der zum dritten Mal vorbeifuhr. Beim ersten Mal hatte es nur ausgesehen, als würde der Fahrer nach einem Parkplatz suchen. Aber das typische Kennzeichen eines Mietwagens war auffällig und bei der dritten Runde wurde offensichtlich, dass er weder jemanden einsammelte noch irgendjemand aus dem Land Cruiser ausstieg. Andere Autos schnappten ihm die Parkplätze weg und nicht ein einziges Mal hatte der Fahrer das getönte Fenster heruntergelassen, um die fast schon obligatorische Tirade des typischen gereizten Autofahrers in Delhi loszulassen.
»Professor?«, unterbrach mich Manohar.
Ich sah gerade rechtzeitig hoch, um die Spiegelung eines Mannes im Fenster zu sehen, der eine Pistole zog. Sofort war ich auf den Beinen und griff nach dem Pizzateller. Aus dem Handgelenk schleuderte ich den schweren Holzteller durch die Luft wie einen Diskus und traf den Bewaffneten in die Brust. Er taumelte rückwärts und die Waffe ging los. Er feuerte in die Luft, als er auf die Knie fiel. Wir duckten uns, Maya Jervois schnappte sich den Behälter vom Tisch und steckte ihn in die Jackentasche.
Von der anderen Seite des Restaurants konnte man Geschrei hören und ein entsetzter Kellner brüllte herum. Ich sah mich um, dankbar, dass die einzigen anderen Gäste weit entfernt von uns in einer Ecke saßen. Sie waren vernünftigerweise unter den Tisch gekrabbelt.
Zwei weitere Männer platzen in das Restaurant, ihre Hände bewegten sich an die Holster ihrer Waffen. Der erste Angreifer war ebenfalls wieder auf den Beinen. Ich überließ ihn Manohar und warf mich auf die beiden neuen Angreifer, zog dann ein Tischtuch von einem der Tische daneben und warf es ihnen über die Köpfe – eine komisch wirkende, aber effektive Ablenkung. Es verschaffte uns nur ein paar Sekunden, doch das reichte aus. Maya Jervois schnappte sich einen Stuhl, schwang ihn gegen ein Fenster in der Nähe und zerbrach die Scheibe. »Hier entlang«, sagte sie und kletterte auf die etwa 30 Zentimeter breite Kante.
Manohar war der Nächste. Er hielt auf halber Strecke kurz inne, nahm seinen Geldbeutel heraus und warf etwas Geld auf den Tisch. Ich ging davon aus, dass es nicht mal annähernd genug war, um den Schaden zu bezahlen.
Ich kletterte als Letzter raus. Unsere Flucht hatte nur Sekunden gedauert, aber es war noch nicht vorbei.
Wir rannten auf dem Vorsprung vor dem Fenster entlang bis zu der Stelle, wo er auf eine kleine Mauer stieß, hinter der ein Treppenabsatz lag. Ich kletterte über die Mauer und fand die Treppe dahinter erstaunlicherweise leer vor. Ich zögerte kurz, doch Maya Jervois schubste mich grob von hinten und raste die Treppe hinunter, Manohar direkt hinter ihr her. Nach einem letzten Blick in Richtung des Restaurants folgte ich den beiden.
Wir kamen zum Parkplatz, wo an einem Ende der Land Cruiser mit laufendem Motor, aber ohne Licht wartete.
»Wo haben wir geparkt?«, fragte Maya Jervois flüsternd und außer Atem.
»Da.« Ich zeigte in die Richtung. »Da haben wir geparkt. Die haben die Straßenlampen in der Nähe gekillt.«
»Scheiße!«, fluchte sie. »Die warten, bis wir versuchen, zum Auto zu kommen, damit sie uns über den Haufen fahren können!«
Manohar sah grimmig aus. »Das ist der Plan B. Die haben bestimmt irgendjemand in einem Hinterhalt liegen. Deswegen ist uns niemand aus dem Restaurant gefolgt.«
Ich war sicher, dass er recht hatte. »Ich hole das Auto. Trefft mich an der Straße, da ist genug los, dass es sicher sein sollte.«
»Aber …« Maya Jervois wollte protestieren.
Ich ignorierte sie und Manohar gab mir die Schlüssel. »Los.«
»Professor …« Sie war hartnäckig. Manohar packte sie am Arm und zog sie mit sich.
Ich wartete, bis sie weniger als einen Steinwurf von der Hauptstraße entfernt waren, bevor ich zu unserem Auto schlich. Ich blieb hinter der Reihe geparkter Autos und war froh, dass die Straßenlampe aus war.
Die Männer, die im Schatten lauerten, waren schwer zu entdecken. Wahrscheinlich waren sie professionell ausgebildet, sich zu tarnen. Aufgrund ihrer Größe und Haltung war es ziemlich offensichtlich, dass sie ehemalige Soldaten waren, vielleicht sogar bezahlte Söldner. Derlei angeheuerte Kräfte waren teuer und standen im Kontrast zu denjenigen, die uns im Restaurant angegriffen hatten. Ich spielte kurz mit der Idee, dass mehr als eine Gruppe hinter uns her war, verwarf sie aber als Hybris.
Es waren zwei, die jeweils 50 Meter von unserem Auto entfernt auf gegenüberliegenden Seiten warteten, um alle Richtungen abzudecken. Das war ein Vorteil, denn ich musste mich nur mit einem auf einmal beschäftigen. Das Problem war, dass sie sich gegenseitig sehen konnten. Das gab mir etwa 20 Sekunden, den ersten Mann auszuschalten, bis der zweite mich erreicht hätte. Ich entschied, dass es keinen Sinn machte, besonders lautlos vorzugehen.
Ich ging direkt auf den ersten Mann zu und zündete mir im Näherkommen eine Zigarette an. Das Klicken und das Licht des Feuerzeugs zog die Aufmerksamkeit der beiden auf mich, aber ich ging weiter und sie drehten sich weg und überprüften mit der Vorsicht, die ich erwartet hatte, ob ihnen etwas anderes in diesen paar Sekunden durch die Lappen gegangen war. Der zweite Mann drehte sich genau in dem Moment wieder zu mir, als ich den ersten erreichte. Er fing zu rufen an, aber bevor sein Kumpan die Warnung verstand, hatte ich ihm einen Schlag ins Genick verpasst und die Nerven getroffen, die zum Gehirn führten. Er ging zu Boden. Dort würde er wohl noch gute zehn Minuten bleiben. Der andere Mann rannte bereits auf mich zu. Ich sprang auf die Motorhaube des nächsten Autos, ein Mercedes, und katapultierte mich von dort aus in seine Richtung. Er war darauf vorbereitet und verpasste mir einen Schlag, als ich auf ihm landete. Der Schwung ließ uns gemeinsam zu Boden gehen. Der Gangster hatte im wahrsten Sinne des Wortes die Oberhand und wollte mir gerade einen Schlag ins Gesicht verpassen, als ich mein Knie hochzog und ihn zwischen die Beine traf. Er klappte zusammen. Ich drehte uns beide herum, hielt ihn mit einem Knie am Boden und wendete gerade lange genug einen Würgegriff an, dass er bewusstlos wurde.
Es war nur noch der Land Cruiser übrig.
Ich hielt mich am Boden und bewegte mich auf mein Auto zu, öffnete die Fahrertür mit dem Schlüssel und schlüpfte hinters Steuer, ohne die Tür zu schließen. Das Auto ohne Verfolgungsjagd aus dem Parkplatz zu bekommen war nur eine Frage der Geduld. Hier parkten eine Menge Menschen, die in die verschiedenen Kneipen oder Restaurants gingen, und es konnte nicht lange dauern, bis jemand anderes wegfahren würde.
Und tatsächlich hörte man ein paar Minuten später das laute Reden einiger Partygänger durch die Nacht dringen. Die Wahrscheinlichkeit war groß, dass sie irgendwo in der Nähe geparkt hatten – diejenigen, die schon früher am Abend losgegangen waren, hatten noch freie Auswahl unter den Parkplätzen gehabt, die dem Gebäude am nächsten lagen. Ich lauschte, und meine Zuversicht wuchs, als ich hörte, wie die Schritte und die Stimmen näher kamen. Ein Auto, weniger als zehn Meter entfernt, piepste, als das Schloss geöffnet wurde. Schritte, ein paar Lebewohls wurden ausgetauscht und die Tür schloss sich mit einem Knall.
Ich war bereit. In dem Moment, als mein unwissend hilfreicher Nachbar den Motor startete, tat ich dasselbe, damit das Geräusch von dessen Motor übertönt würde. Als die Fahrerin die Scheinwerfer anmachte, raste ich in vollem Tempo aus meiner Parklücke und rauschte an dem noch wartenden Auto vorbei auf die Ausfahrt zu. Selbst wenn mich die Gangster im Land Cruiser gesehen hatten, war das andere Auto zwischen uns. Das war genug, um mir einen Vorsprung zu verschaffen. Ich vermutete, dass der Land Cruiser sich eine Verfolgungsjagd ersparen würde.
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