DOROTHEA FLECHSIGarbeitete viele Jahre als Journalistin für verschiedene Zeitungen und Magazine. Inzwischen veröffentlicht sie Geschichten für Kinder. Sie absolvierte eine Ausbildung zur Drehbuchautorin und unterrichtet Erwachsene und Kinder im Kreativen Schreiben.
KATRIN INZINGERarbeitet als Illustratorin, Character-Designerin, Trickfilmzeichnerin und Storyboarderin. Sie lebt mit ihrer Familie in Berlin.
DOROTHEA FLECHSIG
Illustrationen von Katrin Inzinger
Weitere Bücher und Hörbücher von Dorothea Flechsig im Glückschuh Verlag:
Petronella Glückschuh – Tierkindergeschichten
Petronella Glückschuh – Naturforschergeschichten
Petronella Glückschuh – Tierfreundschaftsgeschichten
Sandor – Fledermaus mit Köpfchen
Sandor – Abenteuer in Transsilvanien
Sandor – Not macht erfinderisch
Sandor – Der geheime Schwarm
Pünktchen, das Küken
Pünktchen feiert Geburtstag
Ritter Kahlbutz, Besuch aus der Vergangenheit
Kleiner Dreckspatz Aurelia – Wasch dich doch mal!
Kleine Nachteule Aurelia – Schlaf doch mal!
Kleines Klammeräffchen Aurelia – Lauf doch mal allein!
© 2021 Glückschuh Verlag
Alle Rechte vorbehalten
Einband und Illustrationen: Katrin Inzinger
Satz: Uta Munzinger
Buch ISBN 978-3-943030-78-5
E-Book ISBN 978-3-943030-79-2
www.glueckschuh-verlag.de
1. Kapitel:Ori, das kleine Nashorn
2. Kapitel:Please help!
3. Kapitel:Zweisam statt einsam
4. Kapitel:Eine behütete Kindheit
5. Kapitel:Der Verlust
6. Kapitel:Allein auf der Welt
7. Kapitel:Der Verrat
8. Kapitel:Ein anderes Leben
9. Kapitel:Der erste Schultag
10. Kapitel:Sternschnuppen-Regen
11. Kapitel:Florins Nachname
12. Kapitel:Die Dachpost
13. Kapitel:Das Wiedersehen
14. Kapitel:Nächtlicher Besuch
15. Kapitel:Die Prüfung
16. Kapitel:Das Ritual
17. Kapitel:Das goldene Medaillon
1. Kapitel
Ori, das kleine Nashorn
Die meisten Kinder haben eine Familie. Viele haben eine Mutter und einen Vater. Manche streiten mit Geschwistern und vertragen sich wieder. Vielleicht springt auch freudig ein schwanzwedelnder Hund am Gartenzaun hoch, wenn die Kinder aus der Schule zurück nach Hause kommen, und im Sommergarten duftet es nach Rosen und Jasmin. In der Online-Werbung flimmern solche Familien auf dem Bildschirm. Sie lachen und feiern und liegen sich in den Armen. Aber es gibt auch Kinder, die haben weder einen Gartenzaun noch einen Hund, geschweige denn Geschwister, nicht einmal einen Vater und auch keine Mutter.
Es gibt so unzählige Möglichkeiten aufzuwachsen. Es ist immer die Frage, wer wann wo und wieso aufeinandertrifft. Leben ist Bewegung und Begegnung. Was wäre das Leben ohne Rätselhaftes, Unerklärliches, ohne magische Momente? Ich habe allerlei Menschen getroffen und ihre Geschichten gehört. Seit langer Zeit pflege ich an Lebensjahren reiche Menschen. Ich mag das Wort „Alte“ nicht. Das klingt so verbraucht. Ihr Leben war in mancher Hinsicht ganz anders, als sie jung waren. Ob es damals besser war als heute? Ich kann das nicht beurteilen, ich bin mein Dasein so gewöhnt, wie es jetzt ist. Die meisten Menschen finden, so schön wie in ihrer Kindheit sei es nicht mehr. Aber einige Dinge sind bis heute gleichgeblieben. Nur wenige Begegnungen sind von kurzer Dauer, hinterlassen aber lebenslang einen tiefen, bleibenden Eindruck. Solche Momente sind wahre Magie.
Wenn ich auf Ori angesprochen werde, schwindle ich genauso, wie es Florin lange getan hatte. Wenn ich gefragt werde, warum ich ein kleines Nashorn besitze, das mir nur bis zu den Knien reicht, und woher ich es habe, antworte ich: „So, wie es manchmal kleinwüchsige Menschen gibt, gibt es auch in der Welt der Tiere allerlei Variationen in der Größe.“ Mein Mini-Nashorn sei ein Geschenk eines Zirkusdirektors gewesen, erzähle ich, als dieser seinen kleinen Wanderzirkus hätte aufgeben müssen. „Wie süß“, zwitschern viele erstaunt und wollen Ori berühren. Zum Glück mag er Streicheleinheiten. Ori kann Gesten von Menschen verstehen. Er ist überhaupt das liebste und friedlichste Nashorn, das ich kenne.
Ehrlich gesagt, kenne ich nur Ori. Ich bin bisher noch keinem weiteren Nashorn begegnet.
Seitdem aber hat sich vieles in meinem Leben zum Guten verändert. Daher will ich euch nun die wahre Geschichte erzählen, beginnend mit dem ungewöhnlichen und wunderbaren Leben von Florin Fabricius. Von ihm habe ich Ori bekommen. Er hat mir das Nashorn anvertraut. Aber das eigentliche Geheimnis, nämlich woher Florin Fabricius den Dickhäuter hatte, ist eine andere Geschichte. Damit ihr auch diese verstehen könnt, beginne ich nur wenige Tage nach Florins Geburt.
Florin wuchs bei Elvira Schirra, einer ehrwürdigen Dame, mitten in der Großstadt auf. Ihr kleines Häuschen stand in einem Innenhof versteckt, unter einem großen Kastanienbaum. Der Schornsteinfeger musste immer erst durch zwei Hinterhöfe gehen, um zum Haus von Elvira zu gelangen. Es wurde einst in den Zwanzigern des 20. Jahrhunderts für den damaligen Hausmeister errichtet. Seinerzeit stand rund um das winzige Fachwerkgebäude eine Textilfabrik, in der glitzernde Kleider und edle Anzüge genäht wurden. Nun waren dort großzügige Wohnungen untergebracht.
Elvira wohnte seit vielen Jahrzehnten in diesem denkmalgeschützten kleinen Haus. Sie war, schon bevor Florin in ihr Leben trat, ein wenig wunderlich. Sie lobte ihre Topfpflanzen bei kräftigem Wuchs und belohnte sie, indem sie ihnen „Das Veilchen“ von Mozart auf dem Klavier vorspielte. Sie hatte allerlei Berufe in ihrem Leben ausgeübt. Eine Zeit lang hatte sie an einer Musikschule Klavier unterrichtet. In ihrem kleinen Wohnzimmer stand ein Klavier eng zwischen Bücherregale gequetscht, auf dem sie hingebungsvoll spielte. Sie saß oft am geöffneten Fenster und befahl den Spatzen, nicht so laut zu streiten, sie sprach mit Krähen und Tauben und sie hatte eine Vorliebe für Zahlen. Sie zählte Dinge wie: Fenster in Hausfassaden, leere Parkbänke, Flugzeuge am Himmel, alles Mögliche. Sie sagte, Zahlen würden sie beruhigen. Ihre Lieblingszahlen waren die 2 und die 9, die 29 und die 92. Aber ihre Glückszahl war die 8.
Elvira war nicht Florins echte Großmutter. Aber für Florin war sie seine ganze Familie. Sein Zuhause. Florin liebte sie. So, wie andere Kinder ihre Mama lieben oder ihren Papa, oder eben ihre leibliche Oma. Er war ihr sehr dankbar. Denn hätte es Elvira nicht gegeben, wäre Florin bestimmt in einem Kinderheim groß geworden. Ohne sie hätte er vielleicht nie sein musikalisches Talent entdeckt. Florins Gabe war das Spiel mit den Tasten auf dem Klavier.
Alles, was Florin von seiner echten Mutter besaß, war sein Vorname. Er hatte weder eine Geburtsurkunde noch einen Pass. Es ist nicht einmal sicher, ob er in Deutschland geboren wurde. Jahrelang feierte er mit Elvira seinen Geburtstag am 25. Dezember. An diesem Datum hatte ihn Elvira mit zu sich in ihr kleines Reich genommen. An diesem besonderen Tag buk sie ihm jedes Jahr gleich zwei Kuchen: einen Stollen und eine Quarktorte mit Mandarinen. Sie scherzte immer, ein bisschen Entschädigung müsste dafür sein, dass er bei einer schrulligen Oma aufwuchs.
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